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Ein Teelöffel Land und Meer

Ein Teelöffel Land und Meer

Titel: Ein Teelöffel Land und Meer
Autoren: Dina Nayeri
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Teile erzählt und welche Teile weggelassen werden.
    Saba denkt, alle haben sich abgesprochen, um die Wahrheit über Mahtab zu verschleiern. Aber warum sollten wir? Welchen Grund hätten ihr Vater und die frommen Mullahs und ihre Ersatzmütter, in einer solchen Zeit zu lügen? Nein, es ist nicht richtig. Ich kann meinen Sohn nicht einer enttäuschten Träumerin mit vernarbtem Herzen geben. Was wäre das für ein Schicksal! Mein jüngster Sohn gefangen in einem Leben aus Albträumen und Was-wäre-wenn und fremden Welten. Bitte glauben Sie mir. So könnte es wirklich enden … weil Saba Hafezi die Wunden von hundert schwarzen Jahren in sich trägt.

Kapitel Eins
    Sommer 1981
    S aba sitzt auf dem Beifahrersitz neben ihrem Vater, der zunächst über die Schnellstraßen fährt, die von Teheran wegführen, und Stunden später über kleinere, gewundene Landstraßen zurück nach Cheshmeh. Im Wagen ist es heiß und stickig, und sie schwitzt in ihrem dünnen grauen T-Shirt. Ihr Vater beugt sich rüber und kurbelt die Scheibe auf ihrer Seite ein wenig herunter. Der Duft von nassem Gras strömt herein. Sie kommen an einem sumpfigen Reisfeld vorbei, einem
shalizar
oder, auf Gilaki, einem
bijâr
, und Saba beugt sich hinaus, um den Bauern zuzusehen. Es sind größtenteils Frauen mit Strohhüten, in bunter, fröhlicher Kleidung, die bis zu den Knien hochgerollt ist, während sie durch die gefluteten Felder waten. Saba sieht die lehmverputzten Hütten der Arbeiter, die möglichst nah an dem Tee und dem Reis um die Felder verteilt liegen. Die meisten Landbesitzer wie Agha Hafezi leben nicht so nah an ihren Ländereien, sondern ziehen Großstädte wie Teheran vor. Doch jetzt verwüstet ein Krieg die Grenzorte, vielleicht bald auch die Städte, und das Dorf Cheshmeh, etwa eine Autostunde von der großen Stadt Rasht entfernt, in dem bloß ein paar Tausend Menschen leben, ist ein ruhiger und abgeschiedener Ort. Mit seinen vielen Brunnen und großen Reisscheunen auf dünnen Beinen, die aussehen wie Kriegsherren mit dicken Strohhüten, ist es ein feuchter, schwüler nördlicher Zufluchtsort aus Strohdächern über blau getünchten oder naturbelassenen Terrakottahäusern und Reisstrohhütten, die sich, leicht erhöht vom sumpfigen Boden, am Fuß der Alborz-Berge in
mahalles
zusammendrängen. Das Zentrum von Cheshmeh besteht aus etlichen Pflasterstraßen, die zu einem Marktplatz zusammenlaufen, auf dem einmal in der Woche Basar ist (
jomeh-bazaar
heißt er, Freitagsmarkt). In Teheran könnte Agha Hafezi sich vielleicht besser verstecken, aber hier in dem Haus seiner Kindheit und umgeben von Freunden, die ihn schützen, fühlt er sich sicherer.
    Auf der Kuppe des großen Hügels, knapp hinter dem handgemalten Schild mit der Aufschrift CHESHMEH, bremst Sabas Vater ab, um zwei Fahrradfahrer vorbeizulassen. Der eine ist ein junger Mann in alten Jeans mit einem großen Bündel auf dem Rücken. Der andere ist ein Fischer in einer weiten grauen Hose. Sein salziger Meergeruch weht ins Auto, während er den nächsten grünen Hügel hinaufstrampelt und dann verschwindet. Saba kennt beide Gesichter. Anders als die Villenorte näher am Kaspischen Meer lockt Cheshmeh keine Scharen von Feriengästen an. Nur manchmal kommen Touristen mit Autos oder Bussen, um die Erntearbeiten zu beobachten oder etwas auf dem Basar zu kaufen. Saba drückt die Stirn gegen die Scheibe und wartet auf den unvermeidlichen Moment, wenn der Nebel sich lichtet und plötzlich Bäume in der Ferne auftauchen. Ein Arzt in einem schlecht sitzenden Anzug fährt in einem klapprigen gelben Pick-up vorbei. Auf ihrer Höhe verlangsamt er die Fahrt und winkt. Agha Hafezi wechselt durchs offene Fenster ein paar Worte im Gilaki-Dialekt mit ihm. Saba weiß, dass Cheshmeh für ihren Vater der Punkt ist, an dem alle Straßen enden. Es vereint hundert widerstreitende Gerüche und Klänge – betörende Orangenblütennebel, Girlanden aus Knoblauchzehen, die die Läden schmücken, eingelegter Knoblauch auf gebratenen Auberginen, Gilaki-Lieder und Grillengezirpe in der Nacht. Er genießt die Ruhe des Dorfes. Während sie sich ihrem Haus nähern, weiß Saba, dass er nie wieder versuchen wird, fortzugehen. Er ist ein müder, übervorsichtiger Mann, besessen von seinen Geheimnissen und davon, alle sichtbaren Zeichen seiner eigenen Stärke auszuradieren. Und er ist ein Lügner.
    Jetzt, auf dem Beifahrersitz, allein mit ihrem Vater, weint Saba nicht. Warum sollte sie? Sie ist nicht das Mädchen mit den
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