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Ein Teelöffel Land und Meer

Ein Teelöffel Land und Meer

Titel: Ein Teelöffel Land und Meer
Autoren: Dina Nayeri
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über Mahtab nachzudenken und sich ihre Lebensgeschichte auszumalen, sich vorzustellen, sie nähme Mahtabs Platz ein. Ihre Mutter hat immer gesagt, das ganze Leben wird vom Blut bestimmt. All deine Fähigkeiten und Neigungen und zukünftigen Schritte. Saba meint, wenn das alles in den Adern angelegt ist und wenn das Blut von Zwillingen genau gleich ist, dann folgt daraus, dass sie auch gleiche Leben leben, selbst wenn die Formen und Bilder und Klänge um sie herum unterschiedlich sind – wie etwa, wenn der eine in Cheshmeh wäre und der andere in Amerika.
    Es bricht mir das Herz. Ich höre diese sehnsüchtige Stimme, hebe Sabas Gesicht an und entdecke darin diesen verträumten Ausdruck. Obwohl sie niemals laut sagt: »Ich wünschte, Mahtab wäre hier«, ist es doch jeden Tag der gleiche Eintopf und die gleiche Suppe. Man muss es nicht aus ihrem Mund hören, wenn man deutlich sehen kann, wie ihre Hand nach diesem fehlenden Menschen greift, der immer links von ihr stand. Und wenn ich noch so sehr versuche, sie abzulenken und ihre Gedanken auf praktische Dinge zu richten, reitet sie doch immer weiter auf dem Esel des Teufels. Und würden Sie etwa wollen, dass
Ihr
Sohn seine Jugend damit verbringt, eine solche Lücke zu füllen?
    Das Schlimme dabei ist, dass es ihrem Vater so schwerfällt, sie zu verstehen. Ich habe noch nie einen Mann gesehen, der so unfähig ist, in das Herz seiner Tochter zu schauen. Etwas unbeholfen versucht er, seine Zuneigung zu zeigen, doch es gelingt ihm nicht. Also sitzt er da, mit seiner Wasserpfeife und seiner gebildeten Ratlosigkeit, und denkt:
Glaube ich, was meine Frau glaubte? Soll ich Saba zur Christin erziehen oder zu einem sicheren Leben?
Er beobachtet die ungewaschenen Kinder in Cheshmeh – diejenigen, deren Mütter ihre bunten Kittel und Röcke zwischen die Beine klemmen, ihre Hosen bis zu den Knien hochziehen und den ganzen Tag durch
sein
Reisfeld waten – und fragt sich, was aus ihren Seelen wird. Natürlich sage ich dem Mann nichts. Das tut niemand. Nur ganz wenige wissen, dass sie eine Familie von Christusanbetern sind, sonst könnte es in dem kleinen Dorf für sie gefährlich werden. Aber er sorgt dafür, dass wir Auberginen auf unseren Tellern haben und Wassermelonen in unseren Armen, und deshalb bleibt vieles ungesagt über die Art, wie er Saba erzieht, über seine nächtlichen Dschinn und seinen heimlichen Glauben.
    Jetzt, wo die Mädchen durch so viel Land und Meer voneinander getrennt sind, lässt Saba ihren Hafezi-Verstand unter einem kratzigen, dör f lichen Spiel-Tschador verkümmern, helltürkisfarben und mit Perlen gesäumt, den sie von Khanom Omidi bekommen hat. Sie hüllt ihren kleinen elfjährigen Körper darin ein, um so zu tun, als gehörte sie hierher, wickelt ihn sich eng um die Brust und die Arme, obwohl Städterinnen wie ihre Mutter das niemals tun würden. Sie merkt nicht, dass wir alle hier uns wünschen, an ihrer Stelle zu sein. Sie verspielt alle Möglichkeiten. Mein Sohn Reza erzählt mir, dass sie Geschichten über Mahtab erfindet. Sie gibt vor, ihre Schwester würde ihr Briefe schreiben. Wie kann ihre Schwester ihr Briefe schreiben?, frage ich. Reza sagt, sie wären auf Englisch verfasst, deshalb kann ich nicht wissen, was da in Wirklichkeit steht, aber eines ist klar: Dafür, dass es nur drei Seiten sind, hat Saba jede Menge zu erzählen. Manchmal möchte ich sie schütteln, damit sie aus ihrer Traumwelt erwacht. Ihr sagen, dass wir doch beide wissen, dass diese Seiten keine Briefe sind – wahrscheinlich bloß Schulaufgaben. Ich weiß genau, was sie dann erwidern wird. Sie wird mich verspotten, weil ich ungebildet bin. »Woher willst du das wissen?«, wird sie mich ärgern. »Du kannst doch gar kein Englisch lesen.«
    Das Mädchen ist eingebildet. Liest ein paar Bücher, und schon stolziert es herum, als hätte es Rostam die Hörner abgeschnitten. Tja, ich kann zwar kein Englisch, aber ich bin eine Geschichtenerzählerin, und ich weiß, dass es keine Lösung ist, so zu tun als ob. Ja, es lindert die Schmerzen im Innern, aber die Dschinn müssen im wahren Leben erkannt und besiegt werden. Wir alle kennen die Wahrheit über Mahtab, aber Saba spinnt ihre Geschichten, und Reza und Ponneh Alborz lassen sie immer weitermachen, weil Saba unbedingt will, dass ihre Freunde zuhören – und weil sie als Geschichtenerzählerin ein Naturtalent ist. Das hat sie von mir gelernt – wie man sich ein Märchen oder eine gute Lüge ausdenkt, wie man auswählt, welche
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