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Das Limonenhaus

Titel: Das Limonenhaus
Autoren: Stefanie Gerstenberger
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Kapitel 1
    LELLA
    Diesmal war es kein Besuch. Diesmal war es schlimmer.
    Ich ließ meinen Gurt zuschnappen, atmete tief ein und schloss die Augen. Doch das seltsame Gefühl blieb.
    Als ich meinem Zwillingsbruder Leonardo das erste Mal nach Sizilien folgte, wusste ich nichts von diesem Land. Wir waren in unserer Kölner Wohnung auf dem Bettvorleger geboren worden, gewärmt vom Pizzaofen unter uns. Mein Bruder übermütig und als Erster, ich zögernd ein paar Minuten später.
    Bei uns gab es außer dem Dialekt meiner Eltern und den eindrucksvollen Flüchen meines Vaters überhaupt nichts Sizilianisches. Weder Fotos noch schwärmerische Landschaftsgemälde, keine Möbel und nicht eine einzige geweihte Madonnenfigur. Uns Kindern fiel nicht auf, dass wir nie in die Heimat meiner Eltern fuhren, sondern immer nur zu der Schwester meines Vaters in die Nähe von Bologna. Dort oben in Norditalien aß man gefüllte Teigtaschen statt pasta alla norma, es gab keine cannoli, und ich erinnere mich auch nicht daran, damals schon die eisige granita, die auf Sizilien im Sommer zum Frühstück serviert wird, probiert zu haben.

    Meinen Eltern gehörte die Pizzeria Da Salvatore. Sie lag direkt an den Ausläufern eines Autobahnzubringers in Köln-Ehrenfeld, und auch hier gab es nichts Sizilianisches. Die Weinlaubgirlanden aus Plastik und die mit Bast umwickelten Weinflaschen hatte mein Vater Salvatore dem Vorbesitzer zusammen mit den Holzstühlen und Tischen abgekauft, »für kleine Münze«, wie er gerne erzählte, lautstark lachend. Vielleicht kam daher seine ständig gute Laune: Er liebte es zu bekommen, was er wollte, und dabei auch noch zu gewinnen. In diesem Moment stand er sicherlich summend in der Küche, während seine dicken Finger den Pizzateig in die Pfanne drückten. Er glaubte, ich sei bei einem Chorwochenende in der Eifel.
    Wie oft war ich in den letzten drei Jahren heimlich nach Palermo geflogen, um meine Nichte Matilde zu sehen? Acht Mal? Zehn Mal?
     
    Jemand blieb im Gang vor meiner Sitzreihe stehen, wahrscheinlich, um sich auf den freien Platz zwischen mir und dem Mann am Fenster zu setzen. Ich öffnete die Augen, schaute aber nicht hoch. Waren hinter uns nicht noch Plätze frei? Vielleicht ging er ja doch noch weiter. Dann fiel mein Blick auf seine Hände, und mein Herz setzte kurz aus, bevor es sich entschied, doch weiter zu schlagen. Alles passte: die Größe und Form, die Art, wie die Handgelenke aus den Ärmeln schauten, und sogar die Fototasche, die sie festhielten, alles genau wie bei meinem Bruder! Natürlich war mir in Sekundenbruchteilen klar, dass es nur eine Täuschung sein konnte, denn Leonardos alte Fototasche lag ja, gefüllt mit meinen Büchern, oben im Gepäckfach, und er selbst...

    »Entschuldigung«, sagte der Unbekannte in diesem Moment zu mir und den rosafarbenen Blättern der Sportzeitung, hinter der sich der Mann am Fenster verschanzt hatte. Ich sah nur kurze, dunkelblonde Haare, breite Schultern und dann seine Beine, die mich streiften, während er Platz für die Stewardess machte, die sich mit einem Kichern an ihm vorbeizudrücken versuchte. Er schien ihren Annäherungsversuch gar nicht zu bemerken, sondern winkte jemandem in der Reihe hinter uns zu, offenbar dem vor sich hin wimmernden Baby, das erstaunt innehielt und dann verstummte.
    »Entschuldigung!« Der Fremde war bemüht, mich nicht noch einmal zu berühren. Er setzte sich, verstaute die Fototasche sorgsam unter dem Vordersitz und suchte nach seinem Gurt. Wie sich nach einigem Ringen herausstellte, war er hinter meinem Rücken eingeklemmt.
    »Danke!« Seine tiefe Stimme schien zu lächeln. Erst jetzt wagte ich, kurz in sein Gesicht zu schauen. Seine Augen waren hellblau wie Edelsteine, wie zwei Aquamarine, und seine Zähne waren blank und regelmäßig, eine glatte Reihe hellster Marmor, die ich am liebsten ablecken wollte. Unwillkürlich machte meine Zunge die Bewegung an meinen eigenen Zähnen. So würde es sich anfühlen. Ich musste mich zwingen, ihm nicht weiter auf den Mund zu starren. Seine Lippen waren nicht zu dünn; Männer mit dünnen Lippen konnten ziemlich gemein sein. Fasziniert schaute ich stattdessen auf die knetenden Leonardo-Hände, fast hätte ich nach ihnen gegriffen, um ihn zu beruhigen.
    Heute Morgen hatte ich noch wie jeden Tag, bevor ich den Herd anmachte, mein Rechenritual absolviert. Rechne bloß nicht auch noch die Minuten aus!, hatte ich mich selbst verwarnt und erwischte nach einigen Sekunden dann
die
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