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Ein Teelöffel Land und Meer

Ein Teelöffel Land und Meer

Titel: Ein Teelöffel Land und Meer
Autoren: Dina Nayeri
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und es versalzt mir den Magen, wenn ich daran denke, dass sie an dieser Hoffnung festhält. Ja, ihr Vater hat Geld. Gott weiß, dieses Haus hat alles zu bieten, von Hühnermilch bis Menschenseelen – also alles, was es gibt, und manches, was es nicht gibt. Alles, was du anfassen kannst, und manches Unberührbare. Ich weiß, dass sie weit über uns stehen. Aber ich gebe nichts auf Geld oder Schulbücher. Meine Bildung ist nützlicher als alles, was die Frauen in diesem großen Haus je gelernt haben, und ich weiß, ein größeres Dach bedeutet nur mehr Schnee.
    Ich möchte, dass mein Sohn eine vernünftige Frau bekommt und nicht eine, die sich in Büchern verliert und in Teheraner Allüren und vagen Dingen, die nichts mit den heutigen alltäglichen Bedürfnissen zu tun haben. Und was soll das, mit dieser ganzen fremdländischen Musik, die sie ihm gegeben hat? Welcher andere Junge hört sich diesen Unsinn an, schließt die Augen und schüttelt den Kopf, als wäre er besessen? Gott, steh mir bei. Die anderen Jungen wissen kaum, dass es ein Land namens Amerika gibt … Sehen Sie, ich möchte, dass Reza vernünftige Freunde hat. Aber Saba wird von tausend Dschinn geplagt. Das arme Kind. Ihre Zwillingsschwester Mahtab ist verschwunden, und ihre Mutter ist verschwunden, und ich sage ungeniert, dass tief in der Seele dieses Mädchens etwas Beängstigendes vor sich geht. Sie fertigt hundert Messer, aber keins hat einen Griff – sie hat einfach ein bisschen zu gut gelernt zu lügen, selbst für meinen Geschmack. Sie stellt wilde Behauptungen über Mahtab auf. Und natürlich leidet sie. Zwillinge sind wie Hexen, sie können aus weiter Ferne die Gedanken des anderen lesen. In hundert schwarzen Jahren hätte ich ihre Trennung oder den Schmerz, den sie verursachen würde, niemals vorhergesehen.
    Ich erinnere mich an die beiden in glücklicheren Zeiten, wie sie auf dem Balkon unter dem Moskitonetz lagen, das ihr Vater aufgehängt hatte, damit sie in heißen Nächten draußen schlafen konnten. Sie tuschelten miteinander, stupsten mit ihren rosa bemalten Zehen gegen das Netz und kramten in den Taschen ihrer unanständig kurzen Hosen nach versteckten, halb aufgebrauchten Lippenstiften ihrer Mutter. Das war natürlich vor der Revolution, also auch viele Monate bevor die Familie ganz nach Cheshmeh zog. Es war im Sommer, wenn sie Ferien von ihrer feinen Schule in Teheran machten – wenn die Mädchen aus der Stadt so tun konnten, als führten sie ein dör f liches Leben, mit Dorfkindern spielen, gottesfürchtigen Dorfjungen den Kopf verdrehen, als sie noch jung waren und solche Dinge noch erlaubt waren. Auf dem Balkon pflückten die Mädchen oft büschelweise Geißblatt, das an den Hauswänden rankte, und saugten die Blüten aus wie Bienen, lasen ihre fremdländischen Bücher und heckten Streiche aus. Sie trugen ihre lila Teheraner Sonnenbrillen, ließen ihr langes schwarzes Haar lose über nackte, sonnengebräunte Schultern fallen und aßen ausländische Schokolade, die es jetzt längst nicht mehr gibt. Dann stellte Mahtab meist irgendwelchen Unfug an, dieser kleine Teufel. Manchmal ließ ich Reza zu ihnen unter das Moskitonetz. Es schien ein so süßes Leben zu sein, von dem großen Hafezi-Haus auf die schmalen, gewundenen Wege hinabzublicken, die baumbedeckten Berge dahinter zu sehen und ringsherum unsere vielen kleineren Dächer aus Lehmziegeln und Reisstroh, wie Sabas offene Bücher mit dem Rücken nach oben um die Felder verteilt. Offen gestanden war der Blick aus unserem Fenster sogar besser, weil wir nachts das Hafezi-Haus auf dem Berg sehen konnten, mit seinem hübschen, leuchtend weißen Anstrich, einem Dutzend Fenstern, hohen Mauern und vielen Lichtern, die für Freunde entzündet wurden. Heutzutage ist von diesem Anblick nicht mehr viel übrig – nächtliche Vergnügungen finden ja jetzt nur noch hinter dicken, Musik dämpfenden Vorhängen statt.
    Einige Jahre nach der Revolution bekamen Saba und Mahtab Kopftücher verpasst, und wir konnten die kleinen Unterschiede in ihren Frisuren oder ihren heiß geliebten westlichen T-Shirts nicht mehr sehen, um sie auf der Straße auseinanderzuhalten – fragen Sie mich nicht, warum die T-Shirts verboten wurden. Ich glaube, es lag an irgendeinem ausländischen
chert-o-pert
, das vorne draufstand. Also fingen die Mädchen prompt an, die Rollen zu tauschen, um uns zu narren. Ich denke, das ist heute eines von Sabas Problemen – dieser Rollentausch. Sie verbringt zu viel Zeit damit,
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