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Abschiedskuss

Abschiedskuss

Titel: Abschiedskuss
Autoren: Amanda Hellberg
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Der letzte Tag in Birgittas Leben war nicht weiter bemerkenswert. Abgesehen von seinem Ende.
    Dank der Gewissheit, dass es bald vollbracht sein würde, hatte sie in der Nacht recht ordentlich geschlafen. Ihre Aufgabe war beendet, ihre Figur würde bald vom Spielbrett verschwinden. Wie? Unter welchen Umständen? Das war nicht ganz klar.
    Sie erwachte einigermaßen ausgeschlafen. Obwohl der Rahmen klemmte und ächzte, schob sie das Fenster hoch, um die schwache Herbstsonne ins Zimmer zu lassen. Die Straße dort draußen lag immer noch im Schatten, aber als sie sich hinausbeugte, um die salzige Meeresluft einzuatmen, ließ sich eine dunkle Gestalt erahnen, deren Umrisse vor der Hauswand kaum wahrnehmbar waren. Jemand, der unnatürlich ruhig dastand. Jemand, der es nicht eilig hatte.
    Um nicht nachdenken zu müssen, putzte Birgitta die Spüle, den Kühlschrank und die jetzt fast leeren Küchenschränke. Sie zog die Laken vom Bett und knüllte sie in eine Mülltüte, ließ aber den Überwurf auf der nackten Bettdecke liegen. Sie wischte Staub und saugte mit dem unförmigen Gerät, das man sich aus dem Besenschrank im zweiten Stock ausleihen konnte. Niemand war im Treppenhaus. Jedenfalls sah sie niemanden.
    Eine Weile blieb sie mit einer Tasse Kaffee stehen und sah lächelnd den schmutzigen Stadttauben zu, die unten in den Dorset Gardens gurrten und turtelten, ehe sie ihr Fenster zum letzten Mal schloss. Am Nachmittag verließ sie kurz das Haus, um einen mit Sorgfalt geschriebenen Brief einzuwerfen. Viele Jahre hatte sie darauf gewartet, ihn abschicken zu dürfen. Dann wusch sie ihr Haar im Waschbecken und lackierte sich die Nägel. In der Parfümflasche befand sich noch ein einziger Tropfen. Sie hatte ihn für diesen Abend aufgehoben. Maiglöckchenduft. Immer Maiglöckchenduft. Ihr Erkennungszeichen. Der Tropfen brannte angenehm auf dem Hals. Wie ein Kuss. Ein Abschiedskuss.
    Als der Vermieter klopfte, um die Wochenmiete zu kassieren, hatte Birgitta bereits das Teewasser aufgestellt und den Umschlag mit dem Geld auf den zerkratzten kleinen Tisch gelegt. Dennis blieb eine Weile bei ihr sitzen. Ein freundlicher, schon älterer Mann, der für seine kleinen Hunde und für dünnen Tee mit Milch lebte, und zwar in genau dieser Reihenfolge. Er interessierte sich nicht für Frauen und war der beste Vermieter, den sie je gehabt hatte. Birgitta saß mit klopfendem Herzen, die Wärme ihres Beisammenseins auskostend da und wollte schon fragen, ob er ebenfalls einen diffusen Schatten, einen Fremden vor der Haustüre oder vielleicht sogar im Haus bemerkt habe. Aber dann ließ sie es bleiben. Unnötig, ihn in diese Sache hineinzuziehen. Er war, wie gesagt, ein guter Kerl. Es kam sogar vor, dass sie zusammen in die Hercules Bar gingen. Aber nicht an diesem letzten Abend.
    »Komm schon, Birgitta, sing einen Song für uns. Was von Abba.«
    Aber Birgitta winkte nur abwehrend mit der Hand, lächelte und starrte in ihr Weinglas. Die Freunde am Tisch zuckten mit den Achseln und studierten weiter die Liste mit den Karaoke-Songs. Es gab genug Stammgäste, die ihr musikalisches Talent gern auf der Bühne zur Schau stellen wollten. Oder ihre Talentlosigkeit. Eigentlich spielte das keine Rolle. In der Hercules Bar ganz am Ende des beleuchteten Piers durften sich alle, die darauf Lust hatten, für einen Abend wie ein Star fühlen.
    Als sie die Freunde verließ, war es ihr wichtig, jeden einzelnen zu umarmen.
    Der Nachtwind blies so heftig, dass Birgitta fast umgeweht wurde, als sie den Heimweg über die rauen Planken des Piers einschlug. Unter ihr in den Spalten zwischen den Brettern schimmerte schwarz das Wasser. Sie spürte einen krampfartigen Schmerz im Magen. Waren es die Nerven? Eine Vorahnung? Sie versuchte, nicht daran zu denken, und überließ es ihren Füßen, den Weg zu bestimmen. Sie verlangsamte ihre Schritte und wich von dem beleuchteten Hauptweg ab. Sie zog ihren Mantel enger um sich. Jetzt war sie an der Kante. Jetzt war es bald vorbei.
    Birgitta blieb stehen, lehnte sich an das verschnörkelte schmiedeeiserne Geländer und schaute über die Wellen auf den Strand. Sie konnte kaum etwas erkennen. Feuchtkalte Nebelschwaden stiegen vom Meer auf. Jetzt war es so weit. Eine einzelne, warme Träne sickerte aus ihrem Augenwinkel. Sie machte sich nicht die Mühe, sie durch ein Blinzeln zu verscheuchen. Komm schon. Komm. Sie ließ ihren Mantel los, der nun offen herabhing. Der Wind fuhr unter den Gürtel und schlug ihn ihr wie einen
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