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Antiheld (German Edition)

Antiheld (German Edition)

Titel: Antiheld (German Edition)
Autoren: Stiff Chainey
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Tagebuch Nimkin
    «We can live beside the ocean
leave the fire behind
swim out past the breakers
and watch the world die.»
    Everclear
    Die Träume kehren zurück. Es sind die alten Träume, deren Resümee allein die Verwesung ist. Ich sehe Körper, in denen die Säfte der Fäulnis gären, übel riechende Leichen, die in mir Widerwillen und Ekel, aber auch Lust und Faszination hervorrufen. Immer wieder möchte ich diese toten Leiber berühren, möchte sie ertasten, erfühlen, doch das Tabu ist zu groß. Diese Grenze kann ich nicht überschreiten, weder im Traum noch in der Wirklichkeit. Ich halte mich zurück, etwas hält mich zurück.
    In meiner Vorstellung liegen sie verführerisch aufgebahrt vor mir, doch meine Fingerspitzen berühren stets nur ihre kalte Haut, die weiß wie Marmor ist, mehr nicht. Mehr scheint mein Verstand nicht zu erlauben, scheint mir die allgegenwärtige Vernunft nicht zu gönnen. Manchmal sind die Träume so intensiv, dass ich Fäulnis riechen kann und davon aufwache. Ich erschrecke nicht mehr. Ich bleibe ruhig in der Dunkelheit liegen und stelle mir vor, dass ich tief vergraben im Erdreich ruhe, dass Würmer mich durchbohren. Und dass endlich Stille einkehrt.
    Die Träume erinnern mich an die Zeit in der Klinik, wo ich funktionierte wie ein Automat. Ich empfand das Maschinelle gar nicht negativ. Es war eine gute Strategie, mich gegenüber dem Chaos abzuschotten und die Reaktoren, in denen meine Emotionen zu diesem gefährlichen neuen Element fusionierten, auf Regeltemperatur abzukühlen.
    Ich erinnere mich an das Gesicht meiner Mutter, das sie bei ihren Besuchen aufsetzte, und den zutiefst hilflosen Ausdruck, den ich darin erkannte. Das konnte sie nicht verstehen, das war einfach zu viel für sie. Zu viel Wahnsinn und zu wenig Analytik. Nichts, was man in einen Paragrafen verpacken kann. Ich erinnere mich genau an den Geschmack der Bleiche und an das endgültige Gefühl, das ich empfand, als sie durch meine Kehle ran wie flüssiger Honig.
    Meine Träume und Erinnerungen bleiben in einem Kokon aus dicht gewebtem, elastischem Stoff. Nichts kann entweichen, jedes Detail bleibt. In ihnen bin ich nie so traurig und matt wie in der Wirklichkeit, sondern vital und euphorisch. Auch verfalle ich niemals ins Ungestüme, ins Brutale, sondern bleibe immer sensibel und behutsam.
    Ich lasse die Träume in Rückblenden passieren und finde Vergnügen in der Rolle des passiven Zuschauers, der das Geschehen schweigend betrachtet und so Besitz von seinem Unbewussten nimmt.
    Letzte Nacht ein schwerer, zäher Albtraum: Ich und Nadine flüchten durch einen dunklen Wald. Wir sind nackt und rennen, bereits schwer atmend und erschöpft, vor irgendetwas davon. Etwas in diesem Wald macht uns Angst. Wir wissen nicht, was es ist, aber die Angst treibt uns permanent voran, wir kennen kein Zurück, wir drehen uns nicht um. Wir rennen um unser Leben , und während wir rennen und durch das Dickicht hasten, unsere Füße totes Holz zertreten, verursachen wir kein einziges Geräusch.
    In dieser Landschaft ist man allein, tief in ihrer Erde steckt der Hauch von Abwesenheit und Verzicht. Die Vegetation wird immer spärlicher, feindlicher, bis wir in eine karge Steinwüste gelangen, in der jedes Überleben unmöglich scheint. Wir werden immer langsamer, sind völlig außer Atem, und schlussendlich bleiben wir vor einem mächtigen Kalksteinfelsen stehen.
    Der Felsen stellt eine natürliche Grenze dar, die wir überwinden müssen, um unsere Flucht fortzusetzen, doch das scheint unmöglich. Die Gefahr, die bis jetzt unerkannt im Wald lauerte, kommt näher, und das Gefühl des Ausgeliefertseins lässt unseren Adrenalinspiegel steigen. Jeder Muskel spannt sich bis aufs Äußerste, alle Sinne schärfen sich.
    Wir befinden uns in einem Zustand höchster Erregung, und plötzlich schlägt dieser Zustand in Wollust um. Plötzlich wollen wir nichts anderes, als miteinander ficken. Das unendliche Schweigen macht mich schaudern. Unsere gequälten Blicke treffen sich, wir verbeißen uns ineinander. Ich werde hart und mein Schwanz gleitet in ihren heißen Körper.
    Vielleicht war alles zu viel für sie. Ich frage mich, was passiert wäre, wenn ich einfach etwas mehr Bleiche getrunken hätte. Wir hatten das halbe Jahr davor eigentlich viel Spaß. Nadine hörte mir wenigstens zu. Der Rest der Welt ist sowieso nur ein Scheißhaufen.
    Das ist der letzte Eintrag, zwei Jahre her. Die Zeit vergeht schnell. Ich hatte immer vor, etwas zu schreiben -
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