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Ein guter Blick fürs Böse

Ein guter Blick fürs Böse

Titel: Ein guter Blick fürs Böse
Autoren: Ann Granger
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Wohlstand schließen. Ich sah eine Gruppe bequemer Sessel, einen verblassten türkischen Teppich, zwei niedrige Tischchen, auf einem davon eine aufgeschlagene Bibel. Die einzigen anderen interessanten Gegenstände waren ein Porträt des verstorbenen Mr. Jameson mit einem schwarzen Seidenband sowie ein Paar chinesischer Vasen auf dem Kaminsims, die er vielleicht von einer seiner Reisen mitgebracht hatte. Zwischen ihnen stand eine massive Uhr aus Ebenholz und tickte eintönig. An der Wand hing ein Alphabet-Spiel, hergestellt von Kinderhand.
    Alles machte einen vollkommen normalen Eindruck. Die einzige Kuriosität, wenn man es so nennen konnte, war ein seltsam deplatziert wirkendes Schaukelpferd in einer Ecke des Zimmers. Das hübsche Spielzeug war weiß mit schwarzen Flecken, und es hatte eine lange Mähne und einen Schweif aus echtem schwarzem Pferdehaar. Der Sattel aus rotem Samt war verblasst und ordentlich abgenutzt.
    Ihr erster Ehemann hatte Mrs. Jameson nicht unversorgt zurückgelassen, überlegte ich. Nichtsdestotrotz hatte sie die oberen Räume einem Untermieter überlassen. Gab es finanzielle Gründe dafür, oder war es vielleicht die Einsamkeit gewesen? Hatte sie sich sicherer gefühlt mit einer anderen Person, einem Mann im Haus? Jemandem, der mit ihr unter einem Dach wohnte, während sie älter wurde? Eine junge Dienstmagd war da alles andere als hilfreich, insbesondere während der Abendstunden. Nicht, dass der arme Thomas Tapley imstande gewesen wäre, die beiden Frauen zu beschützen. Wie es aussah, hatte er ja nicht einmal sich selbst schützen können.
    Die Wirtin hatte mein Interesse an dem Schaukelpferd bemerkt. »Es gehörte meiner Tochter Dorcas«, sagte sie. »Sie starb im Alter von zehn Jahren an Diphtherie. Etliche Kinder in der Nachbarschaft erkrankten damals, und alle sind gestorben. Wir wohnen nicht weit vom Flussufer, und Fieber war damals wie heute sehr verbreitet. Dorcas liebte Dobbin, auch als sie schon größer war und nicht mehr auf ihm reiten konnte. Nachdem Ernest und Dorcas mich allein gelassen haben und an einen besseren Ort gegangen sind, steht Dobbin hier in seiner Ecke und leistet mir Gesellschaft.«
    »Es tut mir sehr leid«, sagte ich. »Auch dass Sie nach Ihren schmerzlichen Verlusten nun auch noch dies hier durchmachen.«
    Ich zögerte. Ich wollte die arme Frau nicht unter Druck setzen, wo sie offensichtlich die größte Mühe hatte, ihre Fassung zu bewahren. Doch meine Neugier gewann die Oberhand. »Sie haben nichts gehört? Es gab keine Hinweise auf einen Eindringling?«
    Sie schüttelte den Kopf. »Keine. Sicher, die Wände sind sehr dick hier im Haus, doch ich denke, ich hätte gehört, wenn Mr. Tapley geschrien hätte. Und er muss wohl geschrien haben, nicht wahr?« Sie rang um Fassung. »Wenn er aufgeblickt und den Attentäter auf sich zustürmen gesehen hat, mit einer Waffe in der Hand? Oh, Mrs. Ross, ich hätte nie gedacht, einmal so etwas ansehen zu müssen. So viel Blut, der Teppich war ganz durchnässt von Blut.« Sie brach ab, für den Augenblick abgelenkt wegen dieses hässlichen Details.
    »Vielleicht hat er nicht geschrien, falls er überrascht wurde«, führte ich aus. »Falls der Angreifer sich angeschlichen hat …« Hastig hielt ich inne. Jetzt war nicht der Zeitpunkt für derartige Bilder.
    Sie beugte sich vor. »Er muss leise wie eine Maus ins Haus und die Treppe hochgeschlichen sein. Weder Jenny noch ich haben den Schuft gehört. Ich kann es nicht fassen. Es erscheint völlig unmöglich, dass ein Fremder, ein Mörder, in mein Haus eindringt! Wie hat er das gemacht?«, fragte sie ernst.
    Das will die Polizei vermutlich auch gerne wissen, dachte ich im Stillen. »Hatten Sie Mr. Tapley heute bereits gesehen?«
    »Nein, doch das war keineswegs unüblich. Mr. Tapley stand stets recht spät auf und nahm sein Frühstück in einem Café ein. Ich hätte es gerne gesehen, wenn er hier bei mir gefrühstückt hätte, doch er sagte, er wäre gewohnt, in ein Café zu gehen und die Zeitungen zu lesen. Womit er den Rest des Tages verbracht hat, weiß ich nicht. Zum Abendessen war er wieder da. Es ist – es war die einzige Mahlzeit, die er hier einnahm. Er hatte seinen eigenen Haustürschlüssel, wissen Sie?«
    Sie bemerkte meine Überraschung. »Ich hatte zuerst nicht die Absicht, einem Untermieter einen eigenen Schlüssel zu überlassen«, beeilte sie sich zu sagen. »Doch Mr. Tapley bat mich darum und versprach, ihn nicht zu verlieren. Also stimmte ich zu.
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