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Ein guter Blick fürs Böse

Ein guter Blick fürs Böse

Titel: Ein guter Blick fürs Böse
Autoren: Ann Granger
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und ich uns bester Gesundheit erfreuten, und gab Bessie, die an meiner Seite ging, einen kleinen Schubs, damit sie aufhörte zu kichern.
    »Sie schnappen ein wenig frische Luft!«, stellte Mr. Tapley fest und lächelte Bessie ein weiteres Mal an.
    Verlegen knickste Bessie und murmelte: »Jawohl, Sir.«
    »Und Sie haben recht damit, die Gelegenheit zu nutzen«, fuhr Tapley in meine Richtung gewandt fort. »Bewegung, meine liebe Dame, ist von größter Bedeutung für die Erhaltung der Gesundheit. Ich versäume meinen Spaziergang niemals, gleich welches Wetter wir haben. Doch heute kann man nicht umhin, sich glücklich zu schätzen!«
    Mit einem theatralischen Schwenken seines Regenschirms zeigte er auf den hinter uns liegenden Fluss, der im Sonnenlicht glitzerte. Schiffsverkehr jeglicher Art tuckerte geschäftig auf und ab. Da fuhren Leichterschiffe, Lastkähne, dampfgetriebene Schlepper und sogar ein Schiff, das mit dem Zeichen der Wasser-Polizei gekennzeichnet war, zwischen allen Jollen hin und her kreuzten und häufig nur durch ein Wunder einer Kollision entgingen.
    »Unsere großartige Stadt bei der Arbeit, auf dem Lande und zu Wasser«, bemerkte Tapley und benutzte den Regenschirm wie ein Schulmeister, der mit einem Stock oder einem Lineal auf mit Kreide unterstrichene Wörter an der Tafel deutete. »Meine Empfehlung an Inspector Ross«, fuhr er nahtlos fort. »Möge er nicht nachlassen in seinen tapferen Bemühungen, London von Schurken zu befreien.«
    Er tippte sich an den Hut, strahlte und setzte seinen Weg fort. Wir beobachteten, wie er eine kleine Gruppe umrundete, die sich um einen Straßenkünstler versammelt hatte, mit federndem Gang seiner kleinen, zierlichen Füße die Strasse überquerte und sich in Richtung der im Norden liegenden schmalen Gassen von The Strand aufmachte.
    »Was für ein komischer alter Kauz, nicht wahr?«, bemerkte Bessie ebenso respektlos wie treffend.
    »Er hat offensichtlich einiges mitgemacht«, entgegnete ich. »Es ist nicht seine Schuld – zumindest wissen wir es nicht genau.«
    Bessie dachte darüber nach. »Man kann immer noch den feinen Herrn in ihm erkennen«, räumte sie schließlich ein. »Er muss einmal vermögend gewesen sein. Vielleicht hat er das Geld verspielt, oder er hat getrunken …« Ihre Stimme bekam mit einem Mal einen begeisterten Unterton. »Vielleicht hatte er einen Geschäftspartner, der sich mit dem Geld davongemacht hat, oder vielleicht …«
    »Das reicht jetzt!«, unterbrach ich sie mit Nachdruck.
    Bessie war in unsere Dienste getreten, als Ben und ich geheiratet und einen eigenen Haushalt gegründet hatten. Sie besaß die unterentwickelte, drahtige Statur eines in kargen Verhältnissen aufgewachsenen Menschen, gepaart mit dem wachen Verstand und den geschärften Sinnen eines Kindes aus dem Armenviertel. In ihrer Loyalität war sie gleichermaßen ungestüm wie mit ihrer Meinung.
    Was Thomas Tapley anging, so wusste man nicht viel über ihn. Bessie war nicht die Einzige, die darüber spekulierte, was ihn in derart widrige Umstände gebracht hatte. Er logierte in einem sehr alten Haus am unteren Ende unserer Straße, das nicht zusammen mit unserer relativ jungen Häuserzeile errichtet worden war, sondern aus einer Zeit lange vor dem Bau der Eisenbahn stammte. Damals musste es umgeben gewesen sein von Wiesen und Feldern, ein ausladender gregorianischer Bau mit schönen, vom Zahn der Zeit ein wenig angenagten, bröckelnden Giebeln und einem vornehmen Eingang. Vielleicht war es früher im Besitz eines wohlhabenden Geschäftsmannes oder eines finanziell unabhängigen Gentlemans gewesen. Dieser Tage jedoch gehörte es einer gewissen Mrs. Jameson, ehrbare Witwe eines Klipperkapitäns.
    Die Nachbarn waren überrascht gewesen, als die Witwe vor sechs Monaten Thomas Tapley als Untermieter bei sich aufgenommen hatte – schließlich war sie eine Dame und musste auf ihren guten Ruf achten. Wenn sie gezwungen war, zur Aufbesserung ihres Einkommens eines ihrer Zimmer zu vermieten, so hätte man eher einen Geschäftsmann als Mieter erwartet. Doch Mr. Tapley besaß eine gewisse, ebenso charmante wie unschuldige Art. Trotz seiner heruntergekommenen Erscheinung hielten ihn schon bald alle für einen Exzentriker und billigten seine Anwesenheit.
    Wie seltsam war es doch, dass eine zufällige Begegnung und ein einfacher Austausch von Höflichkeiten mich und Bessie in eine Morduntersuchung ziehen sollten. Wer hätte auch damit gerechnet, dass wir an diesem schönen,
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