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Ein guter Blick fürs Böse

Ein guter Blick fürs Böse

Titel: Ein guter Blick fürs Böse
Autoren: Ann Granger
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Straße.«
    Ben rannte die Stufen hoch. Ich nahm Mrs. Jameson beim Arm und führte sie in ihren Salon.
    »Ich mache Ihnen eine Tasse Tee«, sagte ich, als sie Platz genommen hatte.
    »O nein, Mrs. Ross, bitte machen Sie sich nicht so viele Umstände, Jenny kann …«
    Sie brach ab, als ihr bewusst wurde, dass sie Jenny losgeschickt hatte, um Ben zu holen.
    »Jenny sitzt mit unserer Magd Bessie in unserer Küche«, sagte ich. »Sie kommt wieder, sobald Bessie sie ein wenig beruhigt hat. Vielleicht würde etwas Stärkeres als Tee helfen. Haben Sie Wein, vielleicht Sherry oder Madeira?«
    Darauf reagierte sie plötzlich und erwiderte mit entschiedener Stimme: »O nein, in diesem Haus gibt es keine alkoholischen Getränke, Mrs. Ross.«
    »Es lag mir fern …«, entschuldigte ich mich.
    Sie schloss für einen Moment die Augen. Als sie sie wieder öffnete, schien sie sich gesammelt zu haben. »Auch keinen Tee, danke sehr, Mrs. Ross. Doch ich bin für Ihre Gesellschaft dankbar.«
    Über uns hörten wir, wie eine Tür geschlossen wurde, und Bens Schritte erklangen auf der Treppe.
    »Ich gehe direkt zum Scotland Yard.« Er zögerte. »Es ist keine gute Idee, Sie beide allein und schutzlos hierzulassen. Vielleicht sollten Sie zu unserem Haus gehen.«
    Also ist Mr. Tapley tot, dachte ich. Es war nicht irgendein schlimmes Missverständnis, und er lag auch nicht verletzt oder ohnmächtig dort oben. Ich sah zur Decke hinauf und überlegte, ob es der Raum über diesem war, in dem er leblos am Boden lag.
    »Ich bleibe hier«, sagte Mrs. Jameson unerwartet entschlossen.
    »So schrecklich der Gedanke auch sein mag, dass der arme Mr. Tapley leblos dort oben liegt, so falsch erscheint es mir, das Haus mit Ausnahme seiner Leiche leer zurückzulassen. Es wäre, als hätte ihn jeder im Stich gelassen. Es wäre nicht schicklich. Ich fürchte mich nicht vor einem Toten, Mr. Ross.«
    Ich dachte, dass es eher die Lebenden waren, wegen denen Ben sich sorgte. Doch auf dem Gesicht der Witwe lag ein Ausdruck von Sturheit, und wir erkannten, dass sie ihre Entscheidung getroffen hatte. Sie würde bleiben und eine Art Totenwache halten. Wenn jemand wie die Witwe Jameson erst einmal zu einer Entscheidung gelangt war, was richtig war und was nicht, dann war er nicht mehr davon abzubringen.
    »Ich kann mit Mrs. Jameson hier warten, wenn sie das möchte«, sagte ich.
    Ich sah, dass Ben darüber alles andere als glücklich war, doch er hatte es eilig, zum Yard zu kommen, und nickte. »Ich schicke so schnell es geht ein paar Beamte her. Sollte ich unterwegs dem Constable auf Streife begegnen, schicke ich ihn schon hierher. Bis dahin betritt niemand, nicht eine einzige Person, diesen Raum. Ist das klar? Lizzie, du sorgst dafür, dass niemand ins Obergeschoss geht?«
    Ich versprach es und ging mit ihm zur Haustür, um hinter ihm abzusperren. »Und schließt euch am besten im Salon ein. Ich wünschte wirklich, ihr würdet zu uns nach Hause gehen«, wiederholte er seine Bitte noch einmal.
    »Mach dir keine Sorgen«, sagte ich optimistisch.
    Mit dem Versprechen, so bald wie möglich zurückzukehren, machte er sich auf den Weg. Ich kehrte zur Witwe Jameson in den Salon zurück und schloss die Tür hinter mir ab, wie Ben es verlangt hatte. Ich spürte den Blick der Witwe auf mir.
    »Das ist alles ein furchtbarer Schock«, flüsterte sie, als ich ihr gegenüber Platz genommen hatte. »Eine barbarische Angelegenheit! Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll! Der arme Mr. Tapley! Er ist – er war so ein angenehmer Untermieter.« Sie faltete die Hände im Schoß und sah mich hilflos an. »Wer wäre zu solch einer furchtbaren Tat imstande? Und in meinem Haus!«
    Ich schätzte sie um die sechzig, vielleicht ein oder zwei Jahre jünger als ihr verstorbener Untermieter. Ihr dichtes, graues Haar war ordentlich in der Mitte gescheitelt und straff zu beiden Seiten in den Nacken gekämmt, wo es in einem gedrehten Knoten endete. Sie trug ein kastanienbraunes Kleid mit Spitzenkragen und Manschetten an den Ärmeln und vermittelte den Eindruck äußerster Respektabilität. Mein Blick fiel auf ihre Hand, und ich entdeckte ihren Ehering. Es war der einzige Schmuck, den sie trug. In Gedanken versuchte ich mich in die Lage eines Einbrechers zu versetzen, der womöglich von Tapley aufgescheucht worden war. Doch der Salon sah aus, wie wahrscheinlich Tausend andere im ganzen Land auch. Alles in allem war er nicht ärmlich eingerichtet, doch er ließ auch nicht auf
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