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Ein guter Blick fürs Böse

Ein guter Blick fürs Böse

Titel: Ein guter Blick fürs Böse
Autoren: Ann Granger
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erwähnte, war der Name meines Ehemanns Ernest, und er war der Kapitän des Klippers Josie . Seeleute verbringen zwangsläufig einen Großteil ihrer Zeit fernab der Heimat, und ich pflegte ihn oft zu necken, dass er mehr mit Josie zusammen war als mit mir.
    Seine letzte Fahrt führte ihn zu den Westindischen Inseln. Auf der Heimreise nach London erkrankte er am Fieber und starb. Wir stammen beide aus Quäker-Familien, und keiner von uns rührte auch nur einen Tropfen Alkohol an, gleich welcher Art. Auch seiner Mannschaft verbot Ernest den Alkohol. Doch auf dieser letzten Reise befanden sich unter der Fracht einige Fässer Jamaikarum. Der Bootsmann hatte nach Ernests Tod das Kommando übernommen und schlug vor, den Leichnam in Rum zu konservieren, um ihn zu mir nach Hause bringen und beerdigen zu können. Natürlich hätten sie ihn auch auf See bestatten können, doch Mr. Brand – der Bootsmann – dachte, dass ich Ernests sterbliche Überreste lieber in England zur letzten Ruhe betten wollte. Das war sehr freundlich von Mr. Brand. Also stachen sie ein Fass an und kippten den Rum in ein anderes Behältnis. Dann haben sie Ernests Leiche irgendwie zusammengeklappt, in das Fass gesteckt und dieses wieder mit Rum aufgefüllt und schließlich den Deckel darauf befestigt. Ich weiß nicht, was sie mit dem restlichen Rum gemacht haben. Ich fürchte, sie haben ihn getrunken. Doch die Methode war erfolgreich, und Ernest wurde in Alkohol konserviert zu mir zurückgebracht. Ich habe ihn in seiner Heimatstadt Norwich begraben und empfand es als einen Trost.
    Das war ziemlich merkwürdig, wissen Sie, aber als der Bestatter Ernest für die Beerdigung vorbereitete, fragte er mich, ob er den Verstorbenen rasieren und ihm die Haare schneiden sollte, bevor ich meinen geliebten Mann im Sarg zu sehen bekam. Ich sagte ihm, dass dies sicher nicht nötig sein würde. Doch er erklärte mir, dass Ernests Haare, Bart und Schnurrbart nach seinem Tod und während der Heimreise im Fass noch weiter gewachsen wären und das Ernest inzwischen aussah wie ein Straßenräuber oder ein Eremit. Ich stimmte also zu, damit Ernest bei der Beerdigung wieder wie ein zivilisierter Mensch aussah.
    Ich war es gewöhnt, über längere Zeiträume hinweg allein zu sein, während sich mein Ehemann auf See befand, und sämtliche wichtigen Entscheidungen und Arrangements für mich allein zu treffen, und so kam ich besser zurecht als manch andere Witwe. Ernest hatte eine Lebensversicherung abgeschlossen, sodass ich nicht mittellos zurückblieb. Natürlich erbte ich auch das Haus. Doch ich musste sehr sparsam haushalten, und so kam ich auf die Idee, einen Untermieter zu nehmen. Ich überlegte, nach Möglichkeit an einen älteren Gentleman zu vermieten. Junge Männer sind unzuverlässig. Ein älterer Mann macht wenig Ärger. Junge Vertreter und Handlungsreisende hingegen sind geradezu prädestiniert für Scherereien, Mrs. Ross, und volltrunken nach Hause zu kommen ist nur eine der Unannehmlichkeiten, die sie einem bereiten! Ich fragte zuerst bei der Quäkergemeinde nach, doch zum damaligen Zeitpunkt suchte niemand dort eine Unterkunft. Also gab ich eine sorgfältig formulierte Anzeige in einer der lokalen Zeitungen auf, in der ich betonte, dass es sich um einen alkoholfreien Haushalt handelte. Gleich am nächsten Tag meldete sich Mr. Tapley.
    Er wirkte ein wenig heruntergekommen, doch es war offensichtlich, dass er ein Mann von vornehmer Herkunft und entsprechender Bildung war. Er strahlte so eine – eine Herzensgüte aus, in seinem Gesicht, seiner Art und seiner Stimme. Ich habe keine andere Beschreibung dafür. Man könnte sagen, eine Art Unschuld.
    Normalerweise hätte ich gezögert, einen mir völlig unbekannten Mann ohne richtige Referenzen in mein Haus zu nehmen. Er brachte nur eine einzige Empfehlung, von seiner früheren Wirtin in Southhampton. Sie schrieb, dass er ein vorzüglicher Mieter gewesen war, stets rechtzeitig seine Miete gezahlt und keine Unruhe gestiftet hatte. Sie bedauerte seinen Auszug. Ich fragte ihn, was der Grund für seinen Ortswechsel war, und er antwortete, er hätte Lust verspürt, nach London zurückzukehren, wo er als junger Mann gelebt hatte.
    Es hört sich unbefriedigend an, ich weiß, doch Mr. Tapley erwies sich in den sechs Monaten seit seiner Ankunft als ausgezeichneter Untermieter. Er zahlte seine Miete stets pünktlich. Ich habe niemals auch nur einen Tropfen Alkohol bei ihm feststellen können. Er war sehr zurückhaltend.
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