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Doppelte Schuld

Titel: Doppelte Schuld
Autoren: Anne Chaplet
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    Kühl war es geworden in den letzten Tagen. Katalina blinzelte in die altersmilde Morgensonne und dachte an Herbst und Abschied. Es wurde Zeit, Blanckenburg zu verlassen. Höchste Zeit.
    Sie ließ Zeus von der Leine und folgte ihm in den Schloßpark. Der Hund schnürte im Zickzack über den Weg, die Nase hier und dort im Gestrüpp am Wegesrand, über dem sich die Zweige der Wildrosen unter der Last dunkelroter Hagebutten bogen. Es roch nach feuchtem Waldboden unter dem Blätterdach der verschorften und zerborstenen Baumveteranen. Das würde sie am meisten vermissen: die Spaziergänge morgens und manchmal noch spätabends durch den Park.
    Doch sie war nicht wegen der Naturschönheiten geblieben. So lange. So viel länger als üblich.
    Zu lange.
    Der Weg führte immer tiefer hinein in ein ungeordnetes Stilleben von Baumriesen. Ein Schwarm von Herbstfliegen fiel torkelnd über sie her und drehte wieder ab. Katalina ging langsamer, um den Moment auszukosten: Hinter der Wegbiegung traten die zottigen Giganten unverhofft zurück, und der Blick öffnete sich auf eine weite Wiesenfläche, hinter der es in die Tiefe ging. Schloß Blanckenburg und sein Park lagen auf einem Felsen hoch über der Stadt, von hier aus überblickte man die Landschaft bis zum Horizont. Und am Horizont hockte der Harz mit dem sagenumwobenen Brocken, auf dem sich die Hexen zur Walpurgisnacht trafen.
    Zeus, der von einer verlockenden Fährte im Park aufgehalten worden war, stürmte heran, an ihr vorbei und hinaus auf das lichte Plateau. Katalina folgte langsamer, setzte die Füße fast liebevoll in die Rasendaunen. Dieser Platz war wie geschaffen für Brockengeister und ihre Tänze. Sie bekreuzigte sich gegen den Zauber dieser ketzerischen Vorstellung. Schließlich hatte es hier nicht immer einfach nur eine ebene Rasenfläche gegeben. Bis kurz nach dem Krieg erhob sich an diesem Ort eine Kirche, die Schloßkirche von Blanckenburg. Jetzt lagen deren zertrümmerte Überreste unter dem Rasen, meterhoch aufgeschichtet über der Krypta und den Sarkophagen mit den Toten.
    Katalina zögerte. Noch immer schreckte sie die Vorstellung, über Gräber zu gehen; insbesondere über diese uralte Grabkammer. Sie machte einen Schritt zur Seite. Die Krypta gab es noch, und es gab auch einen Weg hinein – man mußte ihn nur kennen.
    Zeus hielt sich jetzt neben ihr, während sie weiterging. Als im Sommer 1945 die Kirche gesprengt und der Boden planiert wurde, hatte man ein paar uralte Steine vom ehemaligen Friedhof stehengelassen. Wenigstens sie erinnerten noch an eine Vergangenheit, die zurückreichte bis ins 12. Jahrhundert. Fast achthundert Jahre. Unvorstellbar.
    Katalina hatte sich angewöhnt, die Worte ihrer Großmutter zu murmeln, wenn sie sich den verwitterten Grabsteinen näherte. Großmutter pflegte beim Anblick eines Grabes stets höheren Schutz anzurufen. Wenn sie noch gelebt hätte, als Jugoslawien auseinanderbrach, beim gegenseitigen Schlachten und Morden, beim Verscharren der Leichen in Massengräbern – wenn sie das noch erlebt hätte, wäre viel zu tun gewesen für die jeweils zuständigen Heiligen.
    Sie blieb stehen. Es war nicht gut, an einem Ort zu leben, an dem man auf Schritt und Tritt Vergangenheit atmete. Da mochten sie sagen, was sie wollten: daß man nicht verdrängen dürfe, daß man sich erinnern müsse. Aber sie empfand das anders. Es war wohltuend zu vergessen. Man mußte vergessen. Sie wollte vergessen.
    Ein weiterer Grund zu gehen.
    Katalina fuhr sich durchs dichte dunkle Haar und setzte sich wieder in Bewegung. Früher war sie stets schon fort, bevor es auch nur anfing, nach Heimat zu riechen, oder sie einen Hauch jener unsichtbaren Netze spürte, die umgarnen, verführen, festhalten. Katalina Cavic hieß: immer auf der Flucht. Seit sie 1982 das erste Mal Glogovac verlassen hatte, ehemals Schutzberg, später eine jugoslawische Kleinstadt, heute bosnisch. Als Tierärztin hatte sie sich angewöhnt, ihre Wirkungsstätte eher früher als später zu wechseln. Um so verdächtiger, daß sie jetzt schon seit fast drei Jahren Beichtmutter aller Haustierbesitzer im romantischen Blanckenburg im Harz war.
    Auf den Spitzen der Grashalme wiegten sich glitzernde Tautropfen. Sie sah in die bernsteintreuen Hundeaugen von Zeus und lächelte zurück. Dann hob sie den Blick. Ein Rebhuhn trippelte über die Wiese und stieg knatternd auf. Zeus muckte, blieb aber sitzen. Von der Stadt her klang das Achtuhrläuten von St. Bartholomäus herauf. Vor ihr lag die
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