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Wald aus Glas: Roman (German Edition)

Wald aus Glas: Roman (German Edition)

Titel: Wald aus Glas: Roman (German Edition)
Autoren: Hansjörg Schertenleib
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Die Frau saß am Rand der Lichtung, an den Stamm einer Birke gelehnt, die Beine an die Brust gezogen. Hätte es die Nacht zuvor nicht das erste Mal in diesem Jahr geschneit, der Spaziergänger, der sie fand, hätte wohl angenommen, sie habe sich nur hingesetzt, um den Ausblick auf den Vorderen Langbathsee zu genießen, und sei dann eingenickt. Aber dafür war es zu kalt. Dass es eine Frau war, sah er sofort. Auch dass sie tot war, wusste er, so sagte der Mann später aus, schon während er auf sie zuging. Obschon er keine Antwort erwartete, blieb er doch ein Stück von ihr entfernt stehen und rief ihr zu: »Hallo Sie, alles in Ordnung?« Und weil er immer noch nicht glauben wollte, tatsächlich eine Tote gefunden zu haben, und hoffte, die Frau hebe plötzlich den Kopf, sehe ihn lächelnd an, stehe auf und klopfe sich den Schnee von den Hosenbeinen, rührte er sich nicht von der Stelle und sah sie an.
    Über den Wipfeln der Fichten am anderen Seeufer lag Dunst, die Sonne stand handbreit über dem Kamm des Höllengebirges, das den Talkessel abschließt, und tauchte das obere Drittel der Felswand in ein kaltes, weißgelbes Licht. Ein schöner Tag, dachte der Spaziergänger, so schön, als dürfte nichts Schlimmes geschehen. Dann ging er endlich zur Toten hinüber und beugte sich vorsichtig über sie. Aus der Distanzhatte er geglaubt, eine Decke sei ihr von der Schulter gerutscht und liege in ihrem Schoss, aber jetzt sah er, dass sie einen toten Hund im Arm hielt, als könne er sie wärmen. Wie alt sie ist, dachte er, und wie furchtbar müde sie aussieht. Für den nächsten Gedanken, der ihm durch den Kopf ging, schämte er sich, in diesem Alter nimmt man sich doch nicht mehr das Leben, es ist ja ohnehin bald vorbei. Da fiel ihm die Angst seiner Großmutter vor dem Sterben ein. Und vielleicht hatte die alte Frau genau wie seine Großmutter eine unheilbare Krankheit und wollte das Leiden verkürzen. Nur Verrückte fürchten sich nicht vor dem Tod, ging ihm durch den Kopf, und Babys, weil sie noch nicht wissen, dass das Leben ein Ende findet. Oder atmete die Frau etwa noch? Er beugte sich tiefer über sie, fast hätte seine Nase ihr Gesicht berührt. Der Hund, sah er jetzt, war voller Blut und hatte eine Schusswunde auf der Brust. Vor der Toten lag ein schwarzer, handlicher Stein in Form einer stumpfen Pfeilspitze im Schnee. Sie riecht nach Zimt, stellte er verwundert fest; gefrorene Schneekristalle lagen auf ihren Wangen und auf ihren Lippen, die Brauen über den offenen Augen waren weiß vor Reif, wie mit Mehl bestäubt, genau wie der Hund, dessen Schnauze mit Schnee gefüllt war, als habe er in der Erde gewühlt. Der Mann verstand nicht, weshalb es ausgerechnet die rosa Flecken auf den schwarzen Lefzen des Hundes waren, die ihn zu Tränen rührten. Er wandte sich ab, doch das Schluchzen, das ihm aus der Kehle stieg, konnte er nicht hinunterschlucken.
    Drei Dohlen kamen übers Wasser auf ihn zu, ohne Schrei, als verbiete die Situation jedes Geräusch, nicht einmal die Flügel der Vögel waren zu hören; als sie sich in den Ästen über ihnen niederließen, fingen sie aber doch an, vorwurfsvollzu schimpfen. Der Mann blieb in der scharfen Morgenkälte stehen, bis er sich beruhigt hatte. Die Bergstiefel der Toten sahen neu aus. Gern hätte er den Schnee weggewischt, der die Achseln ihrer Gore-Tex-Jacke bedeckte, aber er brachte es nicht über sich, die tote Frau anzufassen. Sie wirkte weder friedlich noch traurig, nur müde und erstaunt, als habe sie etwas Unerwartetes gesehen.
    Im Sommer, überlegte er, und das behielt er später für sich, im Sommer, wenn es selbst nachts nicht kühl wurde, wäre ich bestimmt nicht der Erste gewesen, der die Tote gefunden hätte. Fliegen, Mücken und jede mögliche Art von Käfern hätten sie entdeckt und sich bereits über sie hergemacht. Aber jetzt, im September, nach dem viel zu frühen ersten Schnee? Wissen Füchse, Hirsche und Rehe, dass eine Frau, die reglos an einen Baum gelehnt im Schnee sitzt, ohne sie zu beachten, nicht mehr am Leben ist, und dass weder von ihr noch von dem toten Hund, den sie im Schoss hält, Gefahr ausgeht? Hätten sich die Tiere irgendwann in ihre Nähe gewagt? Und die Dohlen? Hatten sie die Tote bemerkt?
    Der Mann ging um die Birke herum. Ich wollte, sagte er später aus, sehen, was sie zuletzt gesehen hat, bevor sie in der Kälte eingeschlafen, bevor sie gestorben ist. Er ging sogar in die Knie und lehnte das Gesicht an den weißen Stamm. Was die Frau
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