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Bullenball

Bullenball

Titel: Bullenball
Autoren: Stefan Holtkötter
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    Nachts, wenn ich wach liege, denke ich übers Sterben nach.
Wie es sich wohl anfühlen wird. Ich hab keine Angst davor, im Gegenteil: Ich
träume von einem richtig fetten Abgang. Mit einem riesigen Knall. Der absolute
Kick. Mein Blut soll gegen die Wände spritzen und meine Hirnmasse in den
Gardinen kleben. Wer mich findet, der braucht einen Seelsorger. Überall Blut
und Hackfleisch. Sorry, aber mit Saugen und Wischen kommt man nicht weit. Unter
Komplettsanierung geht da gar nichts.
    Dann denke ich oft: Wenn ich das wirklich mal durchziehen sollte,
vielleicht nehme ich ein paar von euch Arschlöchern mit? Ihr denkt, ich bin
feige. Ein Hund, nach dem man treten kann. Da täuscht ihr euch gewaltig. In
meiner Phantasie sehe ich schon eure blöden Gesichter, wenn ihr den Sprengstoff
entdeckt, den ich unterm Mantel am Körper trage. Der dumme Ausdruck in euren
Fressen. Allein dafür würde es sich schon lohnen: Um euch noch ein paar
Sekunden zu beobachten, das Entsetzen, die Frage in euren Augen: »Wird es
geschehen? Wird es nicht geschehen?« Bevor ich den Knopf drücke – und WUMM.
    Ich hasse euch für alles, was ihr mir angetan habt. Ihr habt mich
von allem ausgeschlossen, was Spaß macht. Dabei hab ich alles versucht, um so
zu sein wie ihr, aber irgendwas war immer falsch. Ihr wolltet mich einfach
nicht. Ihr seid grausam und böse. Ihr seid es gar nicht wert, dass ich mich mit
euch befasse. Habt ihr schon mal darüber nachgedacht, mich mit Respekt zu
behandeln? Wie einen Erwachsenen? Wohl kaum, denn sonst hätte ich nicht eine solche
unbändige Lust, euch die Köpfe wegzuballern.
    Das Pfeifen des Regionalzugs drang durch die fortschreitende
Dämmerung. Hinter den Fenstern zogen Industriehallen und schmutzige
Backsteinhäuser vorüber. Regen fiel auf die Landschaft nieder. Eine von Autos
verstopfte Ausfallstraße rückte ins Blickfeld, ein paar Büsche, herumliegender
Müll und wieder ein Backsteingebäude.
    Marie starrte regungslos hinaus. Ihr gingen zahllose Fragen durch
den Kopf. Wie hatte das alles nur passieren können? An welcher Stelle hatte sie
die Kontrolle verloren?
    Die Abteile waren überfüllt, trotzdem herrschte im Zug gute
Stimmung. Freitagabend: Die Leute waren auf dem Weg nach Münster, um sich mit
Freunden zu treffen, ins Kino zu gehen oder einen draufzumachen. Überall lautes
Gelächter und Gekicher. Marie verkroch sich in ihren Sitz. Wie war es möglich,
dass andere so gut gelaunt und fröhlich waren? Wo doch ihre ganze Welt gerade
eingestürzt war. Sie versuchte das laute Treiben um sich herum auszublenden,
starrte weiterhin auf die vorbeiziehende Stadtlandschaft.
    Wassertropfen rannen am Zugfenster hinunter. Sie gerieten ins
Stocken, zitterten im Fahrtwind und glitten ganz plötzlich weiter. Marie legte
einen Finger gegen die Scheibe. Die Tropfen sahen aus wie Tränen.
    »Die weiß nicht mal, wer Lady Gaga ist! Ich mein, kann mir das mal
jemand erklären?« Eine laute, durchdringende Mädchenstimme. »Wie kann man nur
so hinterm Mond leben? Ist das ein Bauerntrampel!«
    Im selben Abteil schräg gegenüber saßen ein paar gestylte Teenies in H&M -Kleidung.
Sie kamen ihr vage bekannt vor.
    »Habt ihr gehört, wie sie in Englisch versucht hat, die Songzeile
vorzulesen?«, fuhr das Mädchen mit der lauten Stimme fort und leierte ohne
Rhythmus und Satzmelodie: »Ei wont jur laaw änd ei wont jur rehwänsch. Die hat
doch einen Knall, aber wirklich.«
    »Ach komm, hör auf. Die tut dir doch nichts«, meinte eine der
Freundinnen beschwichtigend.
    »Natürlich tut die mir was! Mit ihrer bescheuerten Frisur und den
Omaklamotten! Das muss ich mir jeden Tag angucken. Wenn du mich fragst, ist das
Körperverletzung.« Das anhaltende Kichern ermunterte sie, sich weiter
aufzuspielen. »Ich meine … mal im Ernst: Keiner zwingt die, so rumzulaufen. Das
macht die nur, um uns zu quälen. Echt, ich hätte mal Lust, der einen Denkzettel
zu verpassen.«
    Plötzlich fiel Marie wieder ein, woher sie die Mädchen kannte. Sie
waren Schülerinnen vom Anne-Frank-Gymnasium, daher kamen ihr die Gesichter
bekannt vor. Sie hatten auf ihrer Abiturfeier ein Theaterstück aufgeführt. Drei
Jahre war das her. Inzwischen mussten sie selbst dem Abiturjahrgang angehören.
Marie studierte jetzt im sechsten Semester Zahnmedizin, so lange lag ihre
Schulzeit noch nicht zurück.
    Das Anne-Frank-Gymnasium. Jonas. Noch immer spürte sie den Schmerz.
Wann war ihr die Sache aus den Händen geglitten? Warum hatte sie nichts
bemerkt, als noch
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