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Die Schopenhauer-Kur

Die Schopenhauer-Kur

Titel: Die Schopenhauer-Kur
Autoren: Irvin D. Yalom
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»Jeder Atemzug wehrt den beständig eindringenden Tod ab . . . Ref 1
    Zuletzt muß er siegen: denn ihm sind wir schon von Geburt anheimgefallen, und er spielt nur eine Weile mit seiner Beute, bevor er sie verschlingt. Wir setzen indessen unser Leben mit großem Anteil und vieler Sorgfalt fort, so lange als möglich, wie man eine Seifenblase so lange und groß als möglich aufbläst, wiewohl mit der festen Gewissheit, daß sie platzen wird.«
1
    Julius kannte die Betrachtungen über Leben und Tod so gut wie jeder andere. Er stimmte mit den Stoikern überein, die da sagten: »Sobald wir geboren werden, fangen wir an zu sterben«, und mit Epikur, der zu dem Schluss kam: »Wo ich bin, ist der Tod nicht, und wo der Tod ist, bin ich nicht. Warum also den Tod fürchten?« Als Arzt und Psychiater hatte er Sterbenden genau diese Trostworte ins Ohr geflüstert.
    Obgleich er solch düstere Erwägungen im Falle seiner Patienten für sinnvoll hielt, hatte er nie angenommen, dass sie etwas mit ihm zu tun haben könnten. Das heißt, bis zu jenem schrecklichen Moment vor vier Wochen, an dem sich sein Leben für immer verändert hatte.
    Es kam zu diesem Moment im Verlauf einer alljährlichen Routineuntersuchung beim Arzt. Sein Internist – ein alter Freund und Kommilitone aus Studientagen – hatte die Untersuchung gerade beendet und Julius wie immer aufgefordert, sich anzukleiden und zum abschließenden Gespräch in sein Büro zu kommen.
    Herb saß an seinem Schreibtisch und blätterte Julius’ Krankenakte
durch. »Insgesamt siehst du für einen hässlichen Fünfundsechzigjährigen recht gut aus. Die Prostata ist ein bisschen geschwollen, aber das ist meine auch. Blutwerte, Cholesterin und Fettstoffwechsel sind in Ordnung – dafür sorgen die Medikamente und deine Diät. Hier hast du das Rezept für dein Lipitor, das deinen Cholesterinspiegel im Zusammenspiel mit dem Joggen ausreichend senkt. Du kannst dir also ruhig mal was gönnen: Iss ab und zu ein Ei. Ich verdrücke jeden Sonntag zwei zum Frühstück. Und hier ist das Rezept für dein Synthroid. Ich habe die Dosis ein wenig erhöht. Deine Schilddrüse stellt langsam den Betrieb ein – die gesunden Zellen sterben ab und werden durch fibröses Gewebe ersetzt. Absolut gutartig, wie du weißt. Passiert uns allen; ich nehme selbst Schilddrüsenhormone.
    Ja, Julius, keiner unserer Körperteile entgeht dem Schicksal des Alterns. Neben deiner Schilddrüse baut die Knorpelmasse in deinen Knien ab, deine Haarbälge gehen ein, und deine oberen Lendenwirbel sind auch nicht mehr das, was sie mal waren. Außerdem verschlechtert sich offenbar der Zustand deiner Haut: deine Epithelzellen verschleißen eben einfach – schau dir die Altersflecken auf deinen Wangen an, diese flachen braunen Erhebungen.« Er hielt einen kleinen Spiegel hoch, damit Julius sich inspizieren konnte. »Das sind bestimmt ein Dutzend mehr als bei der letzten Untersuchung. Wie viel Zeit verbringst du in der Sonne? Trägst du einen breitkrempigen Hut, wie ich es dir empfohlen habe? Ich möchte, dass du deswegen einen Dermatologen aufsuchst. Bob King ist gut. Er hat seine Praxis gleich im Gebäude nebenan. Kennst du ihn?«
    Julius nickte.
    »Die unansehnlichen kann er mit einem Tropfen flüssigen Stickstoffs abbrennen. Bei mir hat er letzten Monat etliche entfernt. Keine große Sache – dauert fünf, zehn Minuten. Eine Menge Internisten machen das inzwischen selbst. Außerdem sitzt da einer auf deinem Rücken, den er sich mal anschauen soll. Du kannst ihn nicht sehen; er ist direkt unter dem lateralen
Teil deines rechten Schulterblatts. Er sieht anders aus als die anderen – ungleichmäßig pigmentiert und nicht scharf begrenzt. Wahrscheinlich nichts, aber wir sollten ihn checken lassen. Okay, Alter?«
    »Wahrscheinlich nichts, aber wir sollten ihn checken lassen.« Julius hörte die Anspannung und gezwungene Beiläufigkeit in Herbs Stimme. Doch er ließ sich nicht täuschen; die Worte »ungleichmäßig pigmentiert und nicht scharf begrenzt«, gesprochen von einem Arzt zum anderen, gaben Grund zur Besorgnis. Sie waren der Code für ein potenzielles Melanom, und jetzt, im Rückblick, identifizierte Julius diese Worte, diesen einmaligen Moment, als den Zeitpunkt, an dem sein sorgenfreies Leben endete und der Tod sich in seiner ganzen grässlichen Wirklichkeit materialisierte. Der Tod war gekommen, um zu bleiben, er wich ihm nicht mehr von der Seite, und all die Schrecken, die folgten, waren vorhersehbare
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