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Wald aus Glas: Roman (German Edition)

Wald aus Glas: Roman (German Edition)

Titel: Wald aus Glas: Roman (German Edition)
Autoren: Hansjörg Schertenleib
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Pullover über die Schultern gelegt, als gehe sie einer Freizeitbeschäftigungnach, keiner Arbeit. Roberta bat sie mit einem Nicken in ihr Zimmer, blieb aber stehen und bot ihr auch nicht an, sich zu setzen.
    »Das geht wirklich nicht, Frau Kienesberger.«
    Frau Gabathuler schüttelte lächelnd den Kopf und bewegte ihren erhobenen Zeigefinger hin und her. Der Finger war mit blauer Tinte verschmiert. Sie roch nach Pfefferminz, wie immer gegen Abend; Roberta wusste, wo die Hausleiterin den Likör versteckte, sie hatte sie durch das Fenster ihres Büros dabei beobachtet, wie sie die unterste Schublade ihres Schreibtisches herauszog und sich verstohlen umblickte, bevor sie einen Schluck direkt aus der Flasche genommen hatte.
    »Sie müssen essen, Frau Kienesberger!«
    »Ich esse doch.«
    »Aber nicht mit uns!«
    »Doch!«
    »Nicht die letzten zwei Tage. Gibt es vielleicht etwas, über das Sie mit mir reden möchten, Frau Kienesberger?«
    Roberta schüttelte den Kopf und trat einen Schritt zurück. Frau Gabathuler kam den Menschen, mit denen sie redete, zu nahe, das hatte Roberta von Anfang an gestört an ihr.
    »Ihr Beistand macht sich Sorgen.«
    »Das muss er nicht.«
    »Schmeckt Ihnen unser Essen nicht?«
    »Ich esse alles.«
    »Na also.«
    »Aber lieber allein.«
    »Gefällt Ihnen der Tisch nicht, an dem Sie sitzen? Vielleicht sollten Sie sich einen anderen Platz suchen, Frau Kienesberger. An einem Tisch, an dem Sie sich wohl fühlen.«
    War es klug, Frau Gabathuler zu erzählen, dass sie den Tisch bereits zwei Mal gewechselt hatte, seit sie hier war? Die Hausleiterin legte ihr die Hand auf den Arm, die Hand war erstaunlich warm, und ein Geräusch entfuhr ihr, laut und ohne Absicht, ein Seufzen. Wie lange war sie von niemandem mehr berührt worden? Die Hausleiterin blickte sie erstaunt an, zog ihre Hand zurück und lächelte unsicher.
    »Heute tragen Sie ja sogar ein Kleid, Frau Kienesberger.«
    »Geschminkt habe ich mich auch!«
    »Wollen Sie nicht doch etwas essen?«
    »Lieber nicht, nein. Ich bin abends nie hungrig.«
    »Aber später setzen Sie sich auch zu uns, ja? Wir spielen Karten.«
    Frau Gabathuler sah sie prüfend an, und Roberta machte eine Handbewegung, die sie als Zeichen der Zustimmung verstehen konnte. Die Hausleiterin trat auf den Gang hinaus, Roberta machte schnell die Tür hinter ihr zu, drehte den Schlüssel um und löschte das Licht. Die Hausleiterin hatte sie in der ersten Woche gefragt, weshalb sie nie Kleider trage, nie Röcke, sondern immer Kordhosen, die doch besser zu einem Mann passten. Es gebe keine Kleidervorschrift in ihrem Haus, natürlich nicht, dennoch erlaube sie es sich, diese Frage zu stellen. Ich bin, dachte Roberta, zeitlebens zu nahe am Ufer geblieben, ich habe mich nie wirklich hinausgewagt, dorthin, wo das Wasser bodenlos ist und dunkelblau, fast schwarz. Die ausgesperrte Hausleiterin klopfte noch einmal gegen die Tür, allerdings leise und zaghaft, als schäme sie sich, einer alten Frau nicht ihren Willen zu lassen, dann entfernten sich ihre Schritte.
    Roberta ließ einen Moment verstreichen, bevor sie dieCampingmatte und den Daunenschlafsack aus dem Schrank nahm, beides in dem Outdoor-Geschäft in Zürich gekauft, in dem sie auch den Rucksack, die Trekking-Stiefel, das Biwakzelt und die restliche Ausrüstung gefunden hatte. Sie entrollte die Matte neben der offenen Glastür und warf den Schlafsack darauf. Dann zog sie sich bis auf die neue Thermo-Unterwäsche und die Stützstrumpfhosen aus und kroch in den blauen Schlafsack. Wenn sie sich bewegte, knarzte das Nylon, das sich unangenehm anfühlte; der Reißverschluss drückte kalt gegen ihre Beine. Die Trekking-Stiefel hatte sie zuerst gekauft, vor einem Monat. La Sportiva Nepal Trek EVO GTX. Lindgelb, schwarz. Nepal! Sie war mit dem Zug nach Zürich gefahren, aufgeregt wie als junge Frau, wenn sie von Ebensee nach Bad Ischl fuhr, die Blätter mit den Tippübungen in einer Mappe aus Kunstleder, die ihr Steinkogler, der Nachbar, der nach dem Krieg mehrere Jahre in Frankreich in einem Gefangenenlager gewesen war, geschenkt hatte. Es waren Schuhe für Abenteurer, Schuhe für Bergsteiger, nicht für Frauen in Altenheimen. Darum versteckte Roberta sie, genau wie den Rest der Ausrüstung, auf dem Dachboden der Schreinerei, in der sie früher gearbeitet hatte und die längst geschlossen worden war. Nur den Schlafsack und die Campingmatte bewahrte sie im Schrank auf; falls die Portugiesin, die das Zimmer saubermachte, danach fragte,
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