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Wald aus Glas: Roman (German Edition)

Wald aus Glas: Roman (German Edition)

Titel: Wald aus Glas: Roman (German Edition)
Autoren: Hansjörg Schertenleib
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stand schnell auf und drehte den Schlüssel im Schloss, bevor Burhan vor ihrer Tür stand. Sie hatte sich kaum wieder hingelegt, als er an der Klinke rüttelte.
    »Mach auf, Ayfer«, sagte er, »dein Vater will mit dir reden.«
    Ayfer legte sich vorsichtig hin und machte die Augen zu. Ich schlafe, er soll denken, ich schlafe! Sie hasste die Stimme des Onkels genauso wie seine Alkoholfahne.
    »Du sollst aufmachen!«
    Ayfer blieb reglos liegen, ein sechzehnjähriges Mädchen aus Stein, mit jagendem Puls. Ich spüre nichts, dachte sie, rein nichts, es gibt mich nicht, aber tot, tot bin ich nicht. Sie hatte mitbekommen, wie oft sich ihr Onkel und ihre Tante stritten; Burhan hatte an allem, was seine Frau tat, sagte oder machte, etwas auszusetzen, Yeter warf ihm vor, er trinke zu viel. Einmal hatte Ayfer gesehen, wie er sie gegen die Bürowand gedrückt hatte, die Hände um ihren Hals gelegt, als wolle er sie erwürgen, weil sie auf ein Zitat aus dem Koran, das er ihr als Rechtfertigung für ein weiteres Bier ins Gesicht schrie, mit einem anderen Zitat reagiert hatte. Ayfer hatte sich die Titel der Zitate gemerkt und im Koran des Onkels nachgeschlagen: Auf Sure 16, »Die Biene«, Vers 67 »Und wir geben euch von den Früchten der Palmen und Weinstöcke zu trinken, woraus ihr euch einen Rauschtrunk macht und außerdem schönen Unterhalt. Darin liegt ein Zeichen für Leute, die Verstand haben«, hatte Yeter mit Sure 5, »DerTisch«, Vers 90 reagiert: »Wein, das Spiel, Opfersteine und Lospfeile sind ein wahrer Gräuel und des Satans. Meidet es! Vielleicht wird es euch dann wohler gehen.«
    Ihr Onkel fluchte und rüttelte an der Klinke, als könne er das Schloss mit Gewalt aufhebeln.
    »Du machst jetzt diese verdammte Tür auf!«
    Sie genoss es, türkisch zu reden, aber wenn ihr Onkel etwas sagte, verabscheute sie die Sprache ihrer Eltern, die sie doch über alles liebte, so sehr, dass ihr nichts anderes übrigblieb, als ins Schweizerdeutsche zu wechseln, was ihn zur Weißglut trieb.
    »Du machst jetzt diese verdammte Tür auf, Mädchen.«
    Schlimmer als ein schweizerdeutscher Satz von ihr war ihr Schweigen. Ihr Onkel Burhan war es gewohnt, Antwort zu bekommen. Er verlor die Fassung, wenn sie ihn mit einem leeren und gleichzeitig arroganten Mädchengesicht anschwieg, einem Gesicht, das ihm deutlich sagte: »Ich verachte dich!« Als er anfing, gegen das Türblatt zu hämmern, stand Ayfer auf, drehte den Schlüssel um, öffnete die Tür und trat zwei Schritte ins Zimmer zurück, beide Arme um den Oberkörper gelegt.
    »Ich habe Musik gehört, Efendi«, sagte sie auf Türkisch.
    Sie deutete eine Verbeugung an und zeigte auf die Kopfhörer. Burhan kniff die Augen zusammen und schnalzte mit der Zunge.
    »Dein Vater!«
    Ayfer zögerte einen Herzschlag lang, dann ergriff sie das Telefon, das er ihr entgegenhielt.
    »Baba?«, sagte sie und drehte sich von ihrem Onkel weg.

3
    Das Zimmer, in dem Roberta seit drei Monaten lebte, war kleiner als ihr früheres Schlafzimmer, doch dank der Glastür, die auf einen Sitzplatz hinausging, war es heller. Bis auf die gerahmte Fotografie ihres Elternhauses und drei Koffer mit Kleidern und Schuhen hatte sie alle ihre Sachen in eine Brockenstube gegeben, als sie gezwungen worden war, die Wohnung über der Schreinerei aufzugeben.
    Sie öffnete die Glastür und setzte sich auf den Plastikstuhl, den sie von der Terrasse vor dem Café des Altenheimes mitgenommen hatte, ohne jemanden zu fragen, ob sie das dürfe. Abends wurde es jetzt bereits kühl; sie hatte das Ende des Sommers immer geliebt, wenn das Licht bleicher und die Tage kürzer wurden. Sie hörte einen Automotor auf der Straße, die durch den Wald führte, und glaubte, eine Karosserie zwischen den Bäumen aufblitzen zu sehen. Die Äste ihrer Lieblingsbirke hoben und senkten sich, als atme der Baum, seine Blättchen flirrten silbern. Direkt vor der Birke gab es eine kleine Senke, grasgepolstert, nicht größer als eine Badewanne, in die sie sich schon mehrmals gelegt hatte, weil sie sie an die Grasmulde ihrer Kindheit erinnerte, in der sie Michael, dem Sohn des Nachbarn, zum ersten Mal erlaubt hatte, ihre Brüste anzufassen. Es dauerte keine zehn Minuten, dann hörte sie, wie an ihre Zimmertür geklopft wurde. Sie stand auf, trat vom Sitzplatz in ihr Zimmer zurück, machte das Licht auf dem Nachttischchen an und öffnete die Tür.
    Frau Gabathuler, die Hausleiterin, lächelte verkrampft. Sie hatte sich, wie jeden Tag, einen pastellfarbenen
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