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Wald aus Glas: Roman (German Edition)

Wald aus Glas: Roman (German Edition)

Titel: Wald aus Glas: Roman (German Edition)
Autoren: Hansjörg Schertenleib
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oder Namen, manchmal nur Fremdwörter. Anfangs hatte sie sich vorgestellt, die Wörter seien eine Botschaft, eine verschlüsselte Nachricht an sie, da man im Haus ja wusste, dass sie die ausgeliehenen Bücher einreihte. Doch die Idee war ihr bald als eitel erschienen, und sie hatte aufgehört, die einzelnen Worte in einen Zusammenhang bringen zu wollen. Es waren Wörter, mehr nicht, eins unter dem andern, abgeschrieben aus Büchern, die sie nie lesen würde. Sie würde die Liste zu den anderen in den Umschlag stecken.
    Als sie aus dem Fenster sah, war Humbel verschwunden, der Garten leer. Es ist doch bald vorbei, dachte sie, und ich vertue die Zeit, die mir bleibt, an einem Ort, an dem ich nicht freiwillig bin. Ein Kirschbaum bin ich, krumm und verwachsen, der immer noch Früchte trägt. Früher hatte sie nie solche Gedanken gehabt. Sie machten ihr keine Angst, sie verwirrten sie. Sie blieb sitzen, bis es so dunkel war, dass sie eigentlich das Licht hätte anmachen müssen. Sie hörte Stimmen auf dem Korridor, das Tappen von Stöcken, das Quietschen von Gummirädern. Aus ihrem Zimmer im langgestreckten Westtrakt konnte sie zwar nicht auf den Hallwilersee hinuntersehen, dafür sah sie über eine Wiese hinweg den Wald, fünfzig, sechzig Meter entfernt, Bäume, die beim kleinsten Wind rauschten, sich wiegten und nach vorne neigten,als wollten sie aus der Reihe der Stämme heraustreten, um sich davonzumachen.
    Manchmal sah sie Rehe am Saum des Waldes, das versöhnte sie jeweils für kurze Zeit mit der Situation, mit der sie sich nicht abfinden wollte. Die Rehe standen mit erhobenen Köpfen im Dämmerlicht und sahen minutenlang reglos zu den verschiedenen Gebäuden des Altenheimes hinüber, als wollten sie herausfinden, was die Menschen sich von ihrem Leben erhofften und was sie von ihnen unterschied. Die Flecken unter den Sterzen leuchteten, manchmal sah sie die Atemfahnen der Tiere vor der finsteren Wand aus Bäumen.
    In der Küche nebenan klapperten Pfannen, Roberta hörte die Stimme des Kochs, der die tamilischen Hilfskräfte herumbefahl. Auch das Klackern kannte sie, Marianne Gautschi, die Frau mit dem Gesicht einer Dörrpflaume, die noch immer Schuhe mit Absätzen und enge Kostüme trug und die jungen Pfleger anfasste, wann immer sie in ihre Nähe kam, trommelte mit ihren lackierten Nägeln gegen die Glastür des Speisesaales, als könne sie es nicht erwarten, dass man sie einließ. Dabei kam sie immer als Letzte in den Saal und nahm erst Platz, wenn alle anderen bereits saßen, das Besteck in Händen.
    Roberta blieb sitzen, bis es zu dunkel war, um die Buchrücken in den Regalen auseinanderhalten zu können. Sie würde warten, bis die anderen an den Tischen saßen, dann bemerkten die sie vielleicht nicht, wenn sie zu ihrem Zimmer hinüberging. Die Stimmen vor dem Esssaal erinnerten sie an die Bienen von Hausmann, dem Besitzer der Schreinerei, in der sie über zwanzig Jahre als Sekretärin gearbeitet hatte. Zwei Fenster der kleinen Wohnung über der Schreinerei, die er ihr vermietet hatte, gingen auf die Wiese hinaus, auf derdie Bienenstöcke standen. Manchmal war das Summen so bedrohlich gewesen, als flögen die Völker durch ihre drei Zimmer, ausgesandt von Hausmanns eifersüchtiger Frau Elisabeth, und deshalb voller Rachsucht und Hass.
    Roberta brauchte eine Weile, bis sie begriff, woher der unangenehme chemische Geruch kam, der ihr in die Nase stieg: Unter dem Radiator lag ein offener Klebestift, der ihr nicht aufgefallen war. Sie schraubte ihn zu und legte ihn in die Schublade mit dem Schreibzeug, dann stand sie auf. Sie spürte ihr Herz, es schlug beharrlich und irgendwie streng, als wolle es sie belehren. Sie hatte lange nicht mehr an früher gedacht, aber seit einiger Zeit tat sie es. Es waren keine Szenen, die sie vor sich sah, es waren Bilder, sie erinnerte sich an das Licht über der Wiese hinter dem Elternhaus, wenn sie morgens im Nachthemd aus dem Fenster des Kleinhäuslerhofes geblickt hatte, erinnerte sich an ihre vier Kühe am Trog, die gefleckten Schädel nach ihr umgewandt. Sie sah den Krähenschwarm in den Bäumen hinter dem Schuppen mit der Werkstatt des Stiefvaters hocken, sah die neue Brücke über die Traun, drunten, im Ort, roch das flaschengrüne Flusswasser, das unter ihr vorbeizog, und den Malzkaffee, den ihr Stiefvater Johann trank, bevor er mit dem Rad in die Saline fuhr, wo er Schicht arbeitete, hörte das Summen der elektrischen Schreibmaschinen im Schulungsraum über der Papeterie in
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