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Die Gabe der Amazonen

Die Gabe der Amazonen

Titel: Die Gabe der Amazonen
Autoren: Ulrich Kiesow
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    Unsere Königin Gilia starb vor drei Jahren. Bis zu ihrem Tod reiste sie jährlich ins hunderttürmige Gareth, zum großen Turnier, um dem Kaiser ihre Aufwartung zu machen, um hin und wieder an einem Wettstreit der Waffen teilzunehmen und wohl auch, um sich am Anblick der besten Kriegsleute aus aller Welt zu erfreuen.
    In all den Jahren ging sie zweimal des Nachts in das Zelt eines Ritters. Beim ersten Mal – das ist nun einundzwanzig Jahre her – legte sie sich zu Halman ui Bennain, dem Fürsten von Albernia, und zwei Jahre darauf besuchte sie einen Kämpfer namens Rhoaril, der, wie man sagt, aus Al'Anfa stammte.
    Königin Gilia gebar drei Kinder: Yppolita und ihren Zwillingsbruder, der – wie es unser Brauch befiehlt – gleich nach der Geburt getötet wurde, und Ulissa.
    Yppolita, Fürst Bennains Tochter, ist die ältere, Ulissa, Rhoarils Tochter, die jüngere der beiden Schwestern.
    Auszug aus der Kurkuma,
    einer Amazonenchronik
     
    Unser ganzes Dorf und viele Sippen aus dem Blautann und von jenseits des Flusses waren gekommen, das Sommerendfest zu feiern. Hand in Hand traten Männer und Frauen hinaus auf die Lichtung, wo das große Feuer loderte. Sie trugen ihre golden und silbern schimmernden Feiergewänder; ihre Lider waren gesenkt, niemand sprach ein Wort.
    Der Große Zoriel hatte sich auf einem Stein am Feuer niedergelassen und rückte eben seine Leier auf den Knien zurecht. Er hob den gekrümmten Daumen, schaute einmal in die Runde und schlug die Saiten an: Zarte Töne schwebten durch die Luft, fügten sich zu einer wehmütigen Melodie. Ich schloß die Augen, um dem Spiel zu lauschen, doch da klopfte mir plötzlich das Herz bis zum Hals: Konnte es denn wahr sein – der Große Zoriel würde tatsächlich mein Lied singen, das Herbstlied, vor allen Männern und Frauen! Zoriels Daumen strich über die Saiten, ich hielt den Atem an. Und Zoriel sang:
     
    Weißer Nebel atmet schweigend
    über Baum und Wiese hin ...
     
    Plötzlich kam eine seltsame Unruhe auf. Irgendwo krachte und polterte es. Das Feuer selbst und der lichte Glanz auf den Gewändern schienen zu verblassen. Doch Zoriel setzte von neuem an:
     
    Weißer Nebel atmet schweigend
    über Baum und Wiese hin.
    Sommertag so matt sich neigend
    komm herbei nun, dunkler ...
     
    Ein dicker Stein fiel aus dem Himmel herab und zerschmetterte Zoriels Leier mit dumpfem Schlag. Jähes Schweigen.
    Und wieder klatschte etwas schwer ins Gras.
    Mehr Steine kamen geflogen. Wir wurden beschossen!
    Ich rollte über den Boden – etwas klammerte sich an meinen Beinen fest. Ich trat zu, strampelte und riß gleichzeitig den Dolch aus dem Gürtel.
    »Oh, Ingerimms Zorn soll euch auf dem Abtritt treffen!« knurrte jetzt eine heisere Stimme in nächster Nähe, und platsch! schlug wiederum eines dieser Geschosse ein.
    »Wenn ich die Strolche erwische, ich werde sie würgen, bis ihnen die Augäpfel aus dem Schädel kullern!«
    Endlich hatte ich mich aus dem wohligen Gespinst meines Traums befreit, die Wirklichkeit hatte mich wieder. Ach, am liebsten hätte ich sofort zurückgeträumt zum großen Sommerendfest; denn was hatte diese Wirklichkeit schon zu bieten? Über mir ein schwarzes, kahles Astgewirr vor einem blaßgrauen schweren Himmel. An meiner Seite die nasse Asche eines kümmerlichen Feuers und jenseits der Feuerstelle: Larix, der Sohn des Juglans, bei einem Wutausbruch. Der breitschultrige Zwerg schmetterte gerade wieder einmal seinen Hörnerhelm ins Gras. Klatsch! Gleichzeitig mißbrauchte er Ingerimms göttlichen Namen in endlosen Verwünschungen.
    »Gestohlen! Kein Zweifel! Kaladon, das Schwert meiner Väter! O Ingerimm, laß ihren Kot zu Stein erstarren, noch bevor er aus dem Körper tritt!«
    Ich setzte mich auf. Meine Beine hatten sich in den Decken verwickelt. Während ich das schwere, klamme Tuch abstreifte, versuchte ich, Larix zu besänftigen: »Nimm's nicht so schwer, Alter! Sieh mal, dein Schwert ...«
    »... war doch eigentlich eher ein überlanger Dolch.« Viburn kam um die Feuerstelle herum und mischte sich in unser Gespräch.
    Ich zog unwillkürlich den Kopf ein, denn ich ahnte, was nun kam. Es gab Zeiten, da man mit dem Sohn des Juglans prächtig scherzen konnte, und es gab Momente, wo man besser die Zunge hütete. In Augenblicken, da Larix seinen beuligen Helm auf den Boden drosch, schwieg man lieber still ...
    Der Zwerg aber schien Viburn gar nicht zu beachten. Er bückte sich über seinen Rucksack und kramte in seinen Sachen, dabei summte
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