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Ich haette dich geliebt

Ich haette dich geliebt

Titel: Ich haette dich geliebt
Autoren: Anne Haferburg
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1. Waisenkind
    Den ganzen Tag plagte mich eine scheußliche Unruhe. In meinem Bauch kribbelte es. Wie Schmetterlinge. Nur ohne Liebe. Als ich den Brief in den Händen hielt, wusste ich, dass die Nervosität nicht allein meiner mangelnden Ausgeglichenheit zuzuschreiben war. Ich musste etwas geahnt haben.
    Bis zu diesem Tag kannte ich nicht mal seinen Namen. Schon gar keinen Aufenthaltsort. Es gab nichts, was auch nur im Ansatz auf seine Existenz hingewiesen hatte. Mal abgesehen von mir selbst. Ganze siebenunddreißig Jahre bin ich gut zurechtgekommen. Auch ohne ihn. Es grenzte doch an Boshaftigkeit, dass er sich jetzt erst zeigte, ohne dass er noch da war, um Rede und Antwort zu stehen.
    Er war also tot.
    Angesichts dieser unglaublichen Nachricht verspürte ich nichts als Gleichgültigkeit seinem Ableben gegenüber und Überraschung, dass es ihn tatsächlich gegeben hatte. Der Brief flatterte mir ins Haus wie eine Telefonrechnung. Ich rief den Absender – ein Bestattungsinstitut – an. In angelerntem Trauertimbre wiederholte eine Dame nur das, was ich bereits gelesen hatte. Ein Mann war verstorben. Sein Name war Louis Kampen und er hatte einen Brief für mich hinterlassen.
    Dieser Louis Kampen sollte mein Vater gewesen sein. Dass ich wirklich gemeint war, bestätigte angeblich eine Geburtsurkunde.
    Mein Vater. Wie das klang. Wie für andere gemacht. Nicht für mich. Kein einziges „Papa“ ist mir je über die Lippen gekommen. Es war niemand da, der sich hätte angesprochen fühlen können.
    Vor lauter Verwirrung hatte ich nicht mal gefragt, wo dieser Mann gelebt hatte. Wo die Beerdigung sein sollte. Man ging davon aus, dass ich da hinkommen würde. Aber wollte ich das wirklich? Wen sollte ich beweinen? Einen Mann, der mich vielleicht nur aus einem Moment der Lust gezeugt hatte? Was wusste ich schon? Meine Mutter war mehr als verschwiegen gewesen, wenn es um meinen Vater ging. Eine nicht geringe Zeit lang war ich der festen Überzeugung, dass sie mich allein gemacht hatte. In meiner Phantasie trug jede Frau eine Art Samen in sich, der zu einem angemessenen Zeitpunkt reifte und zu einem kleinen Menschen heranwuchs.
    Ich weiß noch, wie schockiert ich war, als ich von der Mechanik der Fortpflanzung erfuhr. Es schien mir unmöglich, dass zwei Menschen dazu benötigt wurden. Wahrscheinlich war ich die Letzte in meinem Alter, die noch nicht wusste, was Sex ist. Wenn dem so war und zwei Menschen dazu gebraucht wurden, wo war dann mein zweiter Erzeuger? Es schien mir angesichts der schweinischen Angelegenheiten, die mir meine Klassenkameraden in schönsten Farben ausmalten, unmöglich, meine Mutter danach zu fragen. Sie war eine sehr konservative Frau, und ich bin mir bis heute nicht sicher, ob sie nicht doch auf andere Weise zu einem Kind gekommen ist.

    Vor drei Jahren starb sie. Einfach so. Ohne Vorahnung. Sie schnaufte kurz, setzte sich auf einen Küchenstuhl und ihr Herz blieb stehen.
    Sie sah aus, als sei sie sturzbetrunken eingeschlafen, obwohl sie Alkohol nicht mal in Form von Pralinen zu sich nahm. Ihr Kopf lag auf dem Tisch. Der rechte Arm hing schlaff in ihrem Schoß und der andere baumelte links an ihr herunter. Die grauen Locken versteckten ihr Gesicht.
    Ich habe es nicht über mich gebracht, sie anzufassen. Die Angst, steife Gliedmaßen zu berühren, war einfach zu groß. Ich wollte nichts Hartes, Festes berühren, sondern die weiche nachgiebige Haut meiner Mutter. Dass die Leichenstarre erst nach Stunden eintrat, war mir offensichtlich nicht klar. Ich stand wie angewurzelt in der Küchentür und starrte sie an, bis Kai meinen willenlosen Körper auf einen Stuhl setzte und sich um alles kümmerte. Die Stille, die ein toter Mensch hinterlässt, ist unerträglich. In der ersten Zeit nach ihrem plötzlichen Tod wunderte ich mich täglich, dass ich überlebt hatte, und dass ich ohne die Liebe meiner Mutter überhaupt atmen konnte.
    Das Wort „Waise“ aber schoss mir erst in den Kopf, als ich diesen Brief in den Händen hielt. Jetzt sollte ich tatsächlich verwaist sein. Unverrückbar allein auf der Welt. Dabei hatte sich nichts geändert. Ich war genauso allein, wie vor dieser Nachricht. Weder Geschwister, noch Großeltern hatte es jemals gegeben. Ich war nicht nur Einzelkind, sondern auch ein Spätzünder.
    Als ich zur Welt kam, lebten die Eltern meiner Mutter längst nicht mehr. Sie war damals bereits sechsundvierzig Jahre alt. Kinder bekam man normalerweise mit zwanzig. Das Wort „Spätgebärende“ galt
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