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Wald aus Glas: Roman (German Edition)

Wald aus Glas: Roman (German Edition)

Titel: Wald aus Glas: Roman (German Edition)
Autoren: Hansjörg Schertenleib
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Tier verzweifelt versucht, sich mit schwarzen Krallen einen Weg in die Halle hineinzukratzen.
    Die Katze saß auf dem First des längsten und höchsten Zirkuswagens und traute sich nicht herunter. Ayfer versuchte,sie vom Dach zu bewegen, indem sie beruhigend auf sie einredete, doch die Katze rührte sich nicht von der Stelle und sah bloß verschüchtert auf sie hinab. Ayfer erinnerte sich, in einem der offenen Schuppen eine Leiter gesehen zu haben.
    »Ich bin gleich zurück«, sagte sie zu der Katze.
    Dass sie türkisch gesprochen hatte, wurde ihr erst bewusst, als sie ein paar Schritt in die Dunkelheit gegangen und in den Durchgang getreten war, der zu den Schuppen hinüberführte. Den Mann, der auf sie zukam, sah sie erst, als er nur noch wenige Meter von ihr entfernt war. Sie blieb stehen und dachte daran, umzudrehen und wegzulaufen, da erkannte sie ihn.
    »Nadir«, sagte sie, »Abi«, und trat lächelnd auf ihn zu.
    Hätte sie sich geduckt, wenn sie gesehen hätte, wie seine Faust auf sie zuschoss? Oder wäre sie dennoch mit ausgebreiteten Armen stehengeblieben, weil sie eine Umarmung ihres großen Bruders erwartete und nicht die Schläge, die Prügel, die ihr seiner Meinung nach zustanden?

6
    Das Leben, eine fahle Leuchtspur am nächtlichen Firmament, eine Spur, der man staunend mit den Augen folgt, den Kopf im Nacken, von hier nach da, ein weiter Bogen über das ganze Himmelsrund, puff!, schon erloschen, schon zu Ende und vorbei.
    Der Gedanke, sterben zu können, Kopfgewicht, war schwindelerregend, selbst in ihrem Alter. Gleichzeitig war er tröstlich,ja befreiend. Ein schrecklich schöner Gedanke, Hohlweg, ein Gedanke, der sie verschlang. Wir alle sind Todgeweihte, vom ersten Atemzug an. Fürchte dich nicht, du musst bloß sterben, so wie alle. Ist das Leben, Totgeburten, nicht die beste Einstimmung in den Tod? Ich bringe mich nicht um, ich höre einfach auf zu leben, das ist alles. Ich lasse zu, dass das Leben mich verlässt, ganz einfach. Ja, dachte sie, es ist Zeit, dass der Tag zu Ende geht, Landstreicher, mein Leben. Was ist die Alternative, sagte sie sich, Jahre im Gefängnis oder in einer Anstalt, weggesperrt, verurteilt wegen Totschlags, Jahre voller Krankheit, voller Schmerzen, Siechtum, langsamer erbärmlicher Tod. Prinz war eiskalt, Floß, sein Fell fühlte sich an wie Draht. Es ist ein Akt der Selbstbestimmung, in der Kälte sitzen zu bleiben und einzuschlafen. Es war leicht, das Flattern leiser Panik niederzuringen. Ich erhebe keinen Anspruch mehr auf das, was mich erwartet. Ich habe mich auf den Weg gemacht, nun will ich ihn zu Ende gehen. Und ich gehe ihn dann zu Ende, Hundekadaver, wann ich es will! Die Freiheit beginnt in der Sekunde, in der du dich loslässt, nicht aufgibst, nein, loslässt, Armenhausküche, freigibst. Erfrieren, stellte sie sich vor, war nicht die schlimmste Art, für immer zu gehen. Ich werde klein und kleiner, ziehe mich in mich selbst zurück, schrumpfe und schrumpfe, bis ich winzig bin, winzig klein und hart wie ein Kiesel, unempfindlich gegen die Kälte, Emailkübel, ein Stein, ein Steinchen am Grund des letzten Stromes, dessen Wasser mich wenden und wieder wenden, Unerforschliches, dessen Wasser mich schleifen und schmirgeln, auf dem langen, wunderbaren Weg ins Meer. Nach Hause, dachte sie, nach Hause gehe ich nicht, nein, Lodenfetzen, das ist nicht mein Zuhause, auf das ich mich zubewege,und ich geh ihn doch, den letzten Weg, Baumstumpf, wohin er mich auch führt, von einem Zimmer ins andere, Schritt um Schritt, Menschenschatten, Atemzug um Atemzug, Prinz im Schoß, am Beginn der größten Reise meines Lebens. Wie klaglos die Natur litt! Eisige Messerstiche gingen ihr durch die Brust, Gehirngefüge, stecht zu, stecht zu, ich glühe! Elfenbein, der Schnee hat die Farbe von Elfenbein, von bleichen Knochen, das Leben ist ein Wunder, der Wald, er ist aus Glas und atmet leisen Zimtgeruch, ich schwebe, schwebe durch seegrasverhangene Hallen und Gewölbe, durch flaches blaues Licht in die Helligkeit, tiefer und tiefer hinab in ein Land, in dem der Himmel nicht gefangen ist zwischen Gebirgen, tiefer und tiefer, nicht länger auf der Suche nach dem, was mir schon lange fehlte, tiefer, bis in eine Welt ohne Menschen, Dahinrudern, tiefer, ich sinke, ich fliege. Du brauchst nicht zu schreien, sie finden dich sowieso, du bist an der Reihe, ich, obschon ich noch nicht am Ende angelangt bin, eigentlich, Lichtblicke, Charakterstärke, Milchführer, egal, ich bin bald da,
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