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Wald aus Glas: Roman (German Edition)

Wald aus Glas: Roman (German Edition)

Titel: Wald aus Glas: Roman (German Edition)
Autoren: Hansjörg Schertenleib
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seine Ängste noch seine Träume. Ich weiß, was er gerne aß, dass er Weißbier und Hagebuttentee nicht ausstehen konnte, Ferien am Meer und Städtereisen langweilig, Kino und Bücher überflüssig fand und gern Karten spielte. Aber wer er war, weiß ich nicht. Und er wusste nicht, wer ich bin. Hatte es ihn je interessiert? Wer dich nicht kennt, kann dich nicht verraten. Hatte er das zu ihr gesagt? Hatte sie es irgendwo gelesen? Wenn sie miteinander geschlafen hatten, war ein Ausdruck in seinen Augen gewesen, als sei er den Tränen nahe, die Melancholie am Grund des Glücks. Oder hatte Herbert etwas gewusst, für das sie nicht den Blick besaß? Nicht einmal in den Momenten der Nähe hatte sie ihn gekannt. Und er sie genauso wenig: Ihre Erregung hatte ihn erschreckt, er hatte sie angesehen, als habe sie Schmerzen, als tue er ihr weh, selbst in der allerletzten Sekunde, bevor die Farben aufleuchteten und helles Licht durch den schmalen Durchgang strömte und sie momentlang blind machte.
    In einem Stand Birken auf einem überspülten Grasstreifen waren zwei Bäume mit dünnen Stämmen umgesunken; sie lagen halb im Wasser, bewegt von einem Wellenschlag, den Roberta sonst gar nicht wahrnahm. Die Blättchen der anderen Birken standen festgefroren in einem Himmel, der die Farbe geronnener Milch angenommen hatte. Kalt sprang Wind aus der Klamm über den Wald, rauschte durch die Kronen, ging über den See und jagte Schatten über seinen blanken Spiegel. Das Gesicht, das Leopold geschnitten hatte,als die andere Frau hinter ihn trat und ihm besitzergreifend die Hand auf die Brust legte, sein Gesicht hatte sie lange nicht vergessen können, seine Enttäuschung über sich selbst und die blitzschnelle Erkenntnis, was ihm nun an Leidenschaft und Hingabe entging und was er alles verspielt hatte, sein jämmerliches Selbstmitleid, das sie letztlich mit seinem Verrat versöhnt hatte.
    Prinz zerrte ungeduldig an der Leine, er wollte Auslauf, und Roberta gab nach und ließ ihn frei. Sie klinkte die Leine aus und hängte sie sich über die Achsel. Prinz sprang zwei Mal um sie herum, ohne zu bellen, dann jagte er ein Stück vor ihr her über den Waldweg und verschwand zwischen den Bäumen, die Schnauze dicht am Boden, als habe er Witterung aufgenommen. War es ein Fehler, dass sie ihn freigelassen hatte, es war immerhin verboten? Sie hörte, wie er durch Strauchwerk und Unterholz brach, Zweige knackten unter seinen Pfoten, er war zu laut, um für Wild eine Gefahr darzustellen. Hausmann hatte sich von ihr abgewandt, als sie ihm erklärte, sie sei froh, wenn er sich nicht von seiner Frau Elisabeth scheiden lasse, froh und dankbar, denn sie habe nicht die geringste Lust, den Alltag mit ihm zu verbringen. Der Weg, voller Schlaglöcher, führte in einer sanften Kurve um eine Bucht, in der die Bäume bis dicht ans Wasser standen. Roberta hatte eben die Steigung hinter sich gebracht, die aus der Bucht führte, da hörte sie Prinz bellen, hoch und in kurzen Stößen, wie er es machte, wenn er aufgeregt war und sich fürchtete. Roberta ließ den Blick durch die Baumstämme springen, hin und her, sah aber nicht ihn, sondern den Blitz eines Mündungsfeuers. Den Knall des Schusses hörte sie erst Sekundenbruchteile später, er peitschte über dasWasser, sie sah das Geräusch als Bild, ein glänzendes Projektil, das rund um den See schoss, dem Saum des Waldes lang, Echo um Echo auslösend, bis es bei ihr angekommen war und sie als Gewissheit, dass jemand auf ihren Hund geschossen hatte, mitten in die Brust traf. Was war es gewesen, was zwischen den Bäumen aufgeblitzt war? Eine Armbanduhr? Ein Siegelring? Der vernickelte Lauf eines Gewehres? Sie stolperte vom Weg in den Wald hinein und fing an, bergan zu laufen.
    Prinz lag neben einem Baumstrunk, der eine Kappe aus Moos trug. Er lag auf der Seite, Hals und Flanke voller Blut, die Schnauze aufgerissen vor Schmerzen, die er bestimmt nicht mehr spürte, mit entblössten Fängen. Es roch nach Harz. Prinz hatte bereits aufgehört zu atmen. Er war tot. Ihr Hund war tot. Er lag in jener Einsamkeit, die den Toten vorbehalten ist. Die Kugel des Mannes, der mit hoch erhobenem Haupt auf sie zukam, hatte ihn wohl sofort getötet und ihm unter dem Hals ein großes Loch in die Brust geschlagen.
    Roberta ging neben Prinz zu Boden, in ihren Ohren rauschte Blut, sie heulte auf, fuhr ihm mit beiden Händen durchs Fell und zog seinen Kopf auf ihre Oberschenkel. Prinz war warm, warm und schwer, ihr wurde schlecht vom
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