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Wald aus Glas: Roman (German Edition)

Wald aus Glas: Roman (German Edition)

Titel: Wald aus Glas: Roman (German Edition)
Autoren: Hansjörg Schertenleib
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Augen zu treten, wenn Nadir von der Arbeit zurück war? Er hielt bestimmt zu den Eltern und nicht zu ihr, schließlich hatte sie auch über ihn Schande gebracht, gerade über ihn, ihren abi, der doch auf sie aufpassen musste. Weder ihren Onkel noch ihre Tante wollte sie wiedersehen, diese Kraft habe ich nicht, dachte sie und lauschte dem Klopfen und Schurren auf dem Dach und dem Jammern der Katze. Ihre Eltern hatten ihr keine Haustiere erlaubt, auch keine Meerschweinchen oder Hamster, Nadir hatte sich nie für Tiere interessiert. Wie spät es wohl war? Schlief ihre Mutter? Saß sie allein am Küchentisch im Dunkeln, weil sie weder vor ihrem Mann noch vor ihrem Sohn weinen wollte? Und was machten Enttäuschung und Wut über seine Tochter aus ihrem Vater? Das Gerede der Verwandten machte es unmöglich, dass er gewisse Dinge in Frage stellte. Es gelang Ayfer nicht, ihre Eltern vor sich zu sehen, auch ihren Bruder konnte sie sich nicht vorstellen. Als Kind hatte Nadir ihr nach dem Baden die Haare gekämmt, hatte schweigend hinter ihr gesessen und war mit Mutters verziertem Holzkamm aus der Türkei langsam und behutsam in langen Strichen durch ihre Haare gefahren, wieder und immer wieder, weil er die stille Zeit mit seiner kleinen Schwester genauso genoss wie sie die Geborgenheit in seinerObhut. Wann hatten sie damit aufgehört? Und wann hatte sie nicht mehr mit ihm über ihre Schwierigkeiten geredet, sondern mit ihren Freundinnen? Früher hatte er ihr sogar erzählt, in wen er verliebt war, und hatte sie vor den Eltern in Schutz genommen. Und jetzt ist er ein junger Mann, der freitags in die Moschee geht, jeden Tag betet und von Tradition und Familie redet, ein Mann mit Augen, die mich so kalt ansehen können, dass ich den Blick niederschlage, als habe er mich bei etwas Unrechtem ertappt. Am schlimmsten fand Ayfer ihren Bruder, wenn er seine Vorschriften mit Witzchen tarnte und sie behandelte, als sei sie ein Kind, das nicht sehen konnte, was er für ein Spiel mit ihr trieb. Gegen seine Wutanfälle hatte sie genauso eine Strategie wie gegen die Wutanfälle des Vaters; gegen die Scherze ihres abi , hinter denen sein Ziel zu sehen war, jedoch nicht. Wird eine Zeit kommen, in der ich nicht mehr abhängig bin von ihrer Meinung? Es war leicht, die Eltern nachzuahmen, so kinderleicht. Aber verstehen, verstehen kann ich sie nicht, noch nicht. Will ich das denn überhaupt, sie verstehen, heißt das nicht, dass ich dann genauso geworden bin wie sie? Der Satz »Wir machen uns doch nur Sorgen um dich« war schon lange die Lieblingswaffe ihrer Mutter; warum begriff ihre ana nicht, dass sie die Sorge längst als Lüge durchschaut hatte? Mutter machte sich keine Sorgen um sie, sondern um den Ruf der Familie.
    Als auch die letzten zwei Teelichter ausgegangen waren, stand Ayfer auf. Das Wehklagen der Katze war leiser geworden, aufgehört hatte es nicht. Die Plastikblume lag vor dem Kühlschrank, sie trat darauf und spürte, wie sich einzelne Blüten vom Stängel lösten. Hinter der Gardine regte sich derBaumwipfel im Nachtwind. Sie rülpste leise und lachte verlegen. Sie stieß die Tür auf, blieb aber noch im Wohnwagen stehen, bis sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Wie kalt die Luft war, jetzt, mit den kurzen Haaren! Jetzt spür ich endlich, dass ich einen Hinterkopf habe! Sie kam sich vor wie in einem Labyrinth, so dicht standen die Zirkuswagen. Als Kind war sie mehrmals im Zirkus gewesen, es hatte ihr nicht gefallen. Die Clowns hatten ihr Angst gemacht, die Tiere leidgetan. Keiner ihrer Freundinnen hatte es im Zirkus gefallen. War Zirkus etwa gar nicht für die Kinder, sondern für die Erwachsenen, die sich bestätigt sehen wollten in ihrem Glauben, die Welt lasse sich beherrschen, nur weil sie dabei zusehen durften, wie Pferde, Löwen und Elefanten sich von Männern mit Peitschen herumdirigieren ließen, von Männern mit Schnurrbärten, die alberne Glitzerkostüme trugen?
    Zwischen den eng zusammengeschobenen Zirkuswagen war es wärmer als auf dem betonierten Platz vor der Wellblechhalle. Ich warte in einer Herde Elefanten auf den Morgen, schoss es ihr durch den Kopf, wir brauchen nicht einmal Feuer zu machen, um die bösen Geister fernzuhalten. An der Stelle, an der die Frau jeweils rauchte, war der Betonboden eine Spur dunkler, sie drückte die gerauchten Zigaretten wohl in den Rinnen des Wellblechs aus, um den in der Wand festgeschraubten Aschenbecher herum waren die Rillen jedenfalls voller Striemen. Als habe ein
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