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Wald aus Glas: Roman (German Edition)

Wald aus Glas: Roman (German Edition)

Titel: Wald aus Glas: Roman (German Edition)
Autoren: Hansjörg Schertenleib
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den grünen Dom des Waldes um den See herumführte. Der Parkplatz war bis auf zwei Autos leer, irgendwo im Wald möhnte immer wieder eine Motorsäge auf. 1949 war Roberta das erste Mal in Wien gewesen – warum fiel ihr das ausgerechnet jetzt ein, auf diesem Waldweg? –, sie, ihre Schwester Fanny und der Stiefvater. Sie konnte sich nicht erinnern, warum Mutter nicht mitgefahren war, wahrscheinlich hatte sie im Bett gelegen, wie so oft in den Jahren nach dem Krieg, deprimiert und lebensmüde. Sie hatten in einem Hotel im 7. Bezirk übernachtet, in einem Dreibettzimmer mit Lavabo, dessen Fenster auf eine Brandmauer hinausging, weil der Stiefvater unbedingt den Artisten sehen wollte, der abends auf einem Seil in vierzig Metern Höhe über den Donaukanal schritt,seine Tochter auf den Schultern. Eisemann, sie erinnerte sich sogar an den Namen des Mannes, Josef Eisemann, die sechzehnjährige Tochter hatte Rosa geheißen. Lichterketten waren über den Kanal gespannt gewesen, eine Musikkapelle hatte gespielt, und dann war der Artist vor ihren Augen in den Tod gestürzt, wenige Meter vor dem Ziel, zusammen mit seiner Tochter. Den Aufschrei, der durch die Tausenden von Zuschauer gegangen war, hatte Roberta lange Zeit nicht aus ihrem Kopf bekommen, genau wie das Licht der Scheinwerfer, das auf einen Schlag erlosch, und die Kapelle, die nach einer Schrecksekunde verstummt war.
    Die Bergwand, die über dem Hinteren Langbathsee in den Himmel wuchs, war schwarz bis auf die Gerölladern, die im schwefelgelben Licht hell aufleuchteten. Die Wolke, die darüber stand, sah aus wie ein Mantelrochen, der seiner eigenen Zeitrechnung gehorchte und sich unendlich langsam bewegte. Ihr Schatten kroch über Schründe, Grate und Felslehnen. Die Frau hatte ihr anerboten, sie in eineinhalb Stunden auf dem Parkplatz abzuholen, dann fuhr sie zurück nach Ebensee, aber Roberta hatte behauptet, sie werde von ihrem Sohn abgeholt. Die Frau hatte ihr keine Fragen gestellt und auch kaum etwas gesagt, sondern ruhig auf die Straße gesehen, als lausche sie etwas nach, das nur sie hörte. Von meinem Sohn, dachte Roberta, ausgerechnet. Warum war er ihr eingefallen? Sie dachte doch nicht wirklich an ihn? Oder etwa doch? Ein Baum, der fällt, macht kein Geräusch, es sei denn, es ist jemand da, der ihn fallen hört. Woher kamen diese Gedanken, fragte sie sich und spürte den Windstoß, der Schauer über das Wasser des Sees trieb, kalt auf dem Gesicht. Das Glücksgefühl, das sie durchströmt hatte, als sie denArtisten in seinem weißen Anzug mit seiner Tochter auf der Schulter auf dem Seil gesehen hatte, hoch über dem dunklen Fluss, im Glanz der Lichterketten, war ihr nach dem Sturz so peinlich gewesen, dass sie sich unmöglich gegen den Weinkrampf hatte wehren können. Es würde, jetzt war sie sich sicher, noch heute Nacht schneien. Ihr Sohn, seltsam! Auch an ihren ehemaligen Ehemann Herbert dachte sie und an die zwei anderen Männer, die in ihrem Leben eine Rolle gespielt hatten, an Leopold, an Hausmann.
    Sie hatte Herbert in Zürich kennengelernt, ein halbes Jahr nach ihrer Ankunft in der Schweiz; er stand vor einem Dancing am Bellevue, sie ging mit ihrer Freundin Dagmar, die wie sie aus Österreich in die Schweiz gekommen war, um Arbeit zu finden, an ihm vorbei, und er sprach sie an und lud sie ein, mit ihr tanzen zu gehen. »Ich tanze nie«, hatte sie geantwortet, »wenn mir jemand dabei zusieht.« »Dann seh ich in die andere Richtung«, hatte er gesagt und sie: »Und was ist mit den anderen Leuten, die sehen mich doch trotzdem?« Er hatte sie auf ihrem Spaziergang begleitet, dem See entlang zum Zürichhorn, durch die seidenweiche Luft einer milden Vorsommernacht, in der die Verheißung eines sorglosen Lebens über ihnen schwebte. Am anderen Ufer blinkten Lichter, Herbert roch gut, fiel ihr nicht ins Wort und hielt sich auf eine Weise zurück, die Roberta als angenehm empfand. Am folgenden Wochenende lud er sie zum Essen ein, in einer italienischen Trattoria im Niederdorf, danach hatten sie sich in einem Dancing am Limmatquai an ein Zweiertischchen am Rand der Tanzfläche gesetzt, Hand in Hand, und kein einziges Mal getanzt. Dass sie, abgesehen von ihrer Abneigung gegen das Tanzen in der Öffentlichkeit, nicht vieleGemeinsamkeiten hatten, war ihnen erst nach der Hochzeit bewusst geworden. War sie ihm auch so unbegreiflich fremd geblieben in den Jahren ihrer Ehe? Ich weiß nicht, was für ein Mensch Herbert gewesen ist, dachte Roberta, ich kenne weder
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