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Ein Tag zu lang

Ein Tag zu lang

Titel: Ein Tag zu lang
Autoren: Marie Ndiaye
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1 Als der Lehrer sich entschloß, Nachforschungen anzustellen, war es dunkel geworden. Die Lichter des nahe gelegenen Gehöfts waren im Nebel kaum zu erkennen, und bei aller Besorgnis war der Lehrer froh, die Gegend schon am nächsten Morgen zu verlassen, denn wie sich zeigte, lebte man dort, kaum war der August zu Ende, in ständigem Regen und Nebel, was er bisher nicht gewußt hatte und erst dieser Nachmittag ihm zu Bewußtsein brachte. Das ganze Jahr über könnte ich hier niemals wohnen, dachte er angewidert, als er in den Weg zum Gehöft einbog und dabei vor jedem Schritt mit der Fußspitze den Boden prüfte, so schwach war das Licht des Mondes.
    Es kam ihm vor, als sei die Kälte mit einem Schlag gekommen, unmittelbar nach dem Mittagessen, gerade als der Lehrer und seine Frau in aller Ruhe beschlossen, erst am nächsten Tag, dem zweiten September, in die Hauptstadt zurückzureisen, etwas später als sonst. Sie waren plötzlich beide erschauert, und der Lehrer hatte ein paar gelehrte Sentenzen über den Wechsel der Jahreszeiten zum besten gegeben. Hatten sie sich dann nicht etwas zu selbstzufrieden über ihre baldige Abreise gefreut und lediglich bedauert, daß das schöne Wetter ihnen nicht noch einen weiteren Tag erhaltenblieb? Gewiß, das örtliche Klima war ihnen gleichgültig, ebenso wie alles andere, was die Gegend betraf, denn sie waren nach der langen, stets heiteren und warmen Ferienzeit am 31. August immer abgereist.
    Und nun nieselte es, und der Lehrer hatte nichts zum Überziehen.
    Völlig durchgefroren betrat er den Hof und klopfte an die Tür. Es dauerte eine Weile, bis man ihm aufmachte, und er begriff, daß man durch ein Fenster im oberen Stock schaute, wer da war – vielleicht konnte man sein Gesicht nicht deutlich ausmachen und wartete ab, bis man ihn mit Sicherheit erkannte, bevor man herunterkam. Beschämt trat er einen Schritt zurück und hob den Kopf. Seine eiskalte Stirn begann zu schmerzen. Gestern war es noch so mild, sagte er sich unwillkürlich vor, verstört und plötzlich sehr niedergeschlagen.
    Schließlich öffnete die Hausherrin die Tür einen Spaltbreit.
    »Ich bin Herman«, rief er, »der Lehrer, Ihr Nachbar.«
    »Ja, ja.«
    Sie machte die Tür weit auf, liebenswürdig, lächelnd, ohne jedoch daran zu denken, ihn hereinzubitten. Sie war eine kräftige junge Frau mit sehr roten Wangen.
    Da fragte er: »Haben Sie meine Frau und unseren Sohn gesehen?«
    Und er erklärte, Rose und das Kind seien drei Stunden zuvor losgegangen, um auf dem Hof Eier zu holen, und da sie noch nicht zurück seien, habe er angenommen, Rose sei auf einen längeren Schwatz geblieben oder vielleicht habe sich der Kleine unbedingt von den Tieren verabschieden wollen. Jetzt sei es jedoch Zeit, nach Hause zu kommen, und er, Herman, der Lehrer, habe sich all die Stunden Sorgen gemacht und sei doch ein wenig empört, daß Rose es nicht für nötig gehalten hatte, ihn mit einem Anruf zu beruhigen. Er ereiferte sich beim Reden.
    »Bitte sagen Sie ihnen Bescheid, daß ich da bin«, schloß er unwirsch.
    Im Bestreben, zumindest seinen Kopf vor dem Sprühregen zu schützen, schob er einen Fuß zwischen die der breitbeinig dastehenden Frau, zog ihn jedoch sofort wieder hervor und wich sogar verlegen einen Schritt zurück, denn weit davon entfernt zu verstehen, daß er hereinkommen wollte, und höflich beiseite zu treten, um ihn vorbeizulassen, hatte die Frau sich nicht von der Stelle gerührt, auch wenn sie weiter freundlich blieb und ihm das Gesicht leicht zuneigte, um ihn besser zu hören. Eine mit Apfelblüten bedruckte Bluse, wie sie in der Gegend, das wußte er beiläufig, die verheirateten Frauen trugen, war über der Brust gekreuzt, wobei sie diese etwas einzwängte, und seitlich mit zweiverschiedenfarbigen Bändern zusammengebunden, an denen man, wenn man dieser Bräuche kundig war, ablesen konnte, in welchem Jahr die Frau geheiratet hatte. Das Scharlachrot ihrer Wangen fand sich genau im Herzen jeder kleinen Blüte wieder.
    Sieht sie denn nicht, daß ich völlig durchnäßt bin? fragte sich Herman verdutzt und zugleich von einer Art Benommenheit ergriffen, die seinen Zorn zunichte machte.
    Da sie ihm weder antwortete noch zur geringsten Bewegung ansetzte, auch wenn sie ihn mit einem seltsam freundschaftlichen Blick fixierte, wiederholte er seine Bitte, sie möge Rose und den Kleinen holen gehen, wobei er jedes Wort sorgfältig betonte. Und er dachte matt, voller Ungeduld auf den nächsten Tag, an dem sie alle
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