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Loewenstern

Loewenstern

Titel: Loewenstern
Autoren: Adolf Muschg
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I
Vorspiel. Portsmouth

    1 Im März 1803, zur Zeit des kurzen Friedens von Amiens, verabschiedete Zar Alexander vor dem Winterpalais zu Petersburg eine Reihe junger Marineoffiziere, die angetreten waren, um zur Fortbildung nach England geschickt zu werden. Er nannte sie seine «Gesandten»; denn um die Größe Rußlands gebührend darzustellen, waren sie auch aufgrund ihres Gardemaßes ausgewählt worden. Unter diesen Umständen hatte es der Zar allerdings vorgezogen, hoch zu Roß den Beistand Gottes für die Expedition anzurufen. Seine Grauschimmelstute tänzelte, als er die Männer zuerst als Boten der wahren, durch den Tod Christi erkauften Freiheit ansprach, dann aber als Weltbürger in Uniform, wozu er aus dem Französischen ins Englische wechselte.
    Der Eisgang der Newa hatte die Hauptstadt teilweise unter Wasser gesetzt; danach war nochmals Winter eingekehrt. Schneeschleier wehten über den Platz, auf dem die hohe Stimme des Zaren verloren klang. Jeder Laut schien die Stille noch zu vertiefen, das Scharren der Hufe auf dem Steinpflaster, das Wiehern aus dem Innern des Winterpalastes; über dem Dampf der Nüstern wirkte die Atemwolke des Zaren zierlich. Als er geendet hatte, fuhr er sich mit behandschuhter Hand über den Mund und sprang dann, wie in plötzlichem Entschluß, aus dem Sattel, um sich den jungen Offizieren zu nähern: sie bekamen Befehl, sich zu rühren.
    Doch stand die Reihe kaum weniger stramm, als sie der Zar, begleitet vom Kommandanten der Gardemarine, abzuschreiten begann. Mann für Mann riefen sie ihren Namen, er nickte bei jedem, hielt auch einmal inne, um das eine oder andere Wort zu verlieren. Sobald der Angesprochene antwortete, wanderten die blauen Augen Seiner Majestät in die Höhe oder schon zum nächsten Mann, und seine Lippen zuckten, wenn sie ihr beständiges Lächeln festhielten. Er hatte bei Rikord angefangen und gleich
Français?
gefragt;
Italien
, antwortete Rikord. – Ihre Vorfahren waren Baumeister? erkundigte sich Alexander weiter, und Rikord antwortete mitrollendem R. – Mein Urgroßvater war
muratore
aus Bergamo und hatte die Ehre, zur Schönheit Ihrer Hauptstadt beizutragen. – Der Zar stand schon vor dem Nebenmann, der seinen Namen bellte: Chlebnikow.
Mais celui-ci est bien Russe
, sagte der Zar zum Kommandanten gewandt, der nachtrug, daß Chlebnikow sich im Schwedischen Krieg ausgezeichnet habe. Warum hat er keine Medaille? fragte der Zar, aber die Antwort schien ihn nicht mehr zu interessieren. Rasch ging er zum nächsten und übernächsten Seeoffizier und beschränkte sich darauf, vor jedem einen Augenblick wie prüfend stehenzubleiben. Schon war er beim Zweitletzten angekommen, dessen Haltung ausdrückte, daß er sich zugleich zu beugen und über sich hinauszuwachsen suchte: Fjodor Moor! – Endlich ein Deutscher, erwiderte der Zar auf deutsch. – Meine Mutter ist Russin und von Adel, Majestät, brachte Moor heraus. –
Un mariage d’amour?
bemerkte Alexander ohne Frageton und fügte bei:
Alors soyez bon fils
und hatte sich schon dem letzten zugewandt, Golownin, der ihn fast um einen Kopf überragte. – Golownin? wiederholte er auf russisch. – Und nicht bei der Garde? Und der hat ja die Georgsmedaille? Wo erworben? – Auf der «Rührmichnichtan», antwortete Golownin. – Wofür? – Wir haben eine schwedische Feuerkugel unschädlich gemacht. – Sehr brav, sagte der Zar, schon sichtbar ungeduldig, und wandte sich zum Gehen; es hatte zu schneien begonnen. – Gute Männer, warf er dem Kommandanten zu, bringen Sie alle heil zurück. Rußland braucht sie. – Einen Augenblick stand er wie einer, dem das Wichtigste entfallen ist, dann schwang er sich aufs Pferd, gab ihm die Sporen und sprengte, gefolgt von seiner Kavalkade, zum Winterpalais zurück. Für das Hurra, das ihm nachgeschrien wurde, bedankte er sich, ohne sich umzudrehen, mit zwei Fingern am Dreispitz; dann hüpften die Federbüsche im Schneegestöber außer Sicht.
    Auch Rikord trug die Georgsmedaille; der Zar hatte sie übersehen. Rikord war blondgelockt und helläugig, auf delikate Art nervös und um ein keckes Wort nie verlegen. Er nannte sich einen versprengten Goten, der tausend Jahre Zeit gehabt hätte, italienischeSitten anzunehmen – hoffnungslos, fügte er hinzu; sonst könnte ich
singen
. Dabei war er seiner tragenden Stimme wegen unter Kadetten als «Tenor» bekannt. Sein Urgroßvater war keineswegs nur
muratore
, sondern die rechte Hand des Stadtbaumeisters Rastrelli gewesen und hatte
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