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Wald aus Glas: Roman (German Edition)

Wald aus Glas: Roman (German Edition)

Titel: Wald aus Glas: Roman (German Edition)
Autoren: Hansjörg Schertenleib
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sofort die Polizei alarmieren, hörst du, Frau, sofort, ich komme, ich bin schon unterwegs, und fass nichts an, hörst du, Frau, fass nichts an!
    Dann wählte sie die Nummer des Notrufs und kniete sich neben dem Mädchen hin, streichelte ihm das Gesicht und versicherte mit leiser Stimme, alles werde gut. Wie lange hatte sie das zu niemandem mehr gesagt, auch zu sich selbst nicht? Alles wird gut! Alles wird gut! Sie wiederholte den Satz so lange, bis er keinen Sinn mehr ergab und einfach nur noch aus Wörtern bestand, die das Mädchen in Sicherheit wiegen sollten. Alles wird gut! Sie kam sich vor wie früher, als sich ihre Dragica noch von ihr hatte berühren und streicheln lassen, abends, nach der Schule, wenn sie Trost brauchte nach einer schlechten Note, oder nachts, wenn sie aus einem bösen Traum erwachte und um Hilfe rief, Mama!, Mama!
    Als sie hörte, wie die Sirenen der Ambulanz näher kamen,strich sie dem Mädchen über die Wange, stand auf, zündete sich endlich eine Zigarette an, schloss die Augen und inhalierte tief.
    Es schneite, als die Sanitäter die Trage mit dem Mädchen aus dem Durchgang trugen, dicht und heftig, viel zu früh, Flocke an Flocke, es war doch erst September, ein Wirbel wie im tiefsten Winter. Bis die Männer die Ambulanz erreichten, die mit offener Hecktür vor dem Durchgang stand, war der Boden mit einer dünnen Schneeschicht bedeckt, auf der die Abdrücke ihrer Schuhe stehenblieben, ganz kurz nur, dann waren sie wieder verschwunden, ausgelöscht.

IN DER FREMDE

1
    Roberta Kienesberger stand am Fenster des Bibliotheksraums und sah in den Garten hinaus. Die Wolkenbank, die sich schnell über den Himmel schob, war schieferfarben, das Sonnenlicht, gefiltert durch die Zweige der Bäume, sprenkelte die Fassade mit Flecken, die tanzten, wenn der Wind auffrischte. Anfangs hatte sie den Bücherdienst so oft wie möglich übernommen, aber seit sie nicht mehr stillsitzen konnte, hielt sie es kaum aus in der Bibliothek, in der es nach Essen roch, da sie an die Küche grenzte.
    Humbel, ihr Zimmernachbar, saß auf der Parkbank und redete mit sich selbst, wie oft, wenn er sich unbeobachtet fühlte. Sie wusste, wovon Humbel redete, schließlich kannte er nur ein Thema: die Fortpflanzung von Tieren. Die Kieswege leuchteten in der fahlen Abendsonne, der Himmel war jetzt leer und weit, und sie trat auf den Gang hinaus und holte den Wagen herein, auf dem sich die zurückgebrachten Romane und Bildbände stapelten. Sie war nie eine Leserin gewesen und hatte sich nur dafür gemeldet, die Bücher alphabetisch in die Regale einzuordnen, weil es eines der Ämtchen war, bei denen man alleine war und seine Ruhe hatte. Sie interessierte sich noch immer nicht für Literatur, aber seit sie vor vier Wochen in Hiob von Joseph Roth ein gefaltetes Blatt Papier gefunden hatte, auf dem in sorgfältiger Handschriftmit Bleistift Worte aufgelistet waren, schlug sie jedes Buch auf, bevor sie es zurückstellte. Sie hatte damals einen ganzen Nachmittag gebraucht, um die einundzwanzig Worte der Liste in Joseph Roths Roman zu finden: jedes einzelne Wort war, verteilt über die 297 Druckseiten, mit Bleistift unterstrichen gewesen. Sie sammelte die Listen, mittlerweile waren es acht, in einem Umschlag, aber sie hatte nie ernsthaft versucht, herauszufinden, wer sie schrieb. Die Handschrift gefiel ihr, sie war klein und doch großzügig, energisch und doch elegant. Es war die Schrift eines Mannes, stellte sie sich vor, eines gebildeten Mannes, der gewöhnt war, Anweisungen zu erteilen, der seine Bleistifte messerscharf spitzte.
    Heute lag die Liste im untersten Buch des Stapels, Die Nacht von Lissabon von Erich Maria Remarque. Remarques Im Westen nichts Neues hatte sie in der Schule gelesen, viele Jahre war es her, gefallen hatte es ihr nicht. Sie nahm die Liste aus dem Buch, entfaltete sie aber erst, als sie wieder am Schreibtisch saß:
    Passagierdampfer
    Glaskabine
    Indonesien
    Obersturmbannführer
    Girlanden
    Lump
    Bienengesumm
    Monteuranzug
    Ausreisevisum
    Kostbarkeiten
    Kanarienvogel
    Mücke
    Roberta machte sich nicht mehr die Mühe, nachzuprüfen, ob die Worte wirklich aus dem Buch stammten, in dem die Liste lag. Die ersten drei Listen hatte sie noch überprüft, aber da sie auf kein einziges Wort gestoßen war, das sich nicht auf irgendeiner Buchseite fand, verzichtete sie mittlerweile auf die Kontrolle. Die neue Liste beschränkte sich auf Hauptworte. Manchmal waren es ausschließlich Tätigkeitswörter, manchmal Adjektive
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