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Die Laute (German Edition)

Die Laute (German Edition)

Titel: Die Laute (German Edition)
Autoren: Michael Roes
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Bis hierher haben wir die Räder geschoben, ich das kleinere, leichtere, Rafał sein verrostetes altes Herrenrad. Warum gerade hierher? Rafał zuckt mit den Schultern. Wenig Autoverkehr, gebärdet er, und es geht leicht bergab. Wird dir helfen das Gleichgewicht zu halten
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    Er lehnt sein Rad an eine Bank am Wegrand und hilft mir in den Sattel. Gerade noch mit den Zehenspitzen kann ich den Boden erreichen. Setz deine Füße auf die Pedale, fordert er mich auf. Ich werde dich festhalten
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    Einen Augenblick ist alles in der Schwebe. Rafałs rechte Hand am Lenker, seine linke auf meiner Schulter. Mein Blick fällt auf die Friedhofsmauer. Sie und die Friedhofskapelle sind aus denselben gebrannten Ziegeln in der Farbe geronnenen Bluts errichtet wie die Kościuszko-Festung in meinem Rücken
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    Ich habe das Gefühl, der Hügel starre mich aus seinen toten Augen an. Ich mag ihn nicht, diesen Kegel zu Ehren eines Kriegshelden. Drei Jahre lang haben sich Tausende Arbeiter abgemüht, diesen Hügel aufzuschütten. Unter die Erde haben sie die Asche gefallener Soldaten gemischt. Nur einmal bin ich hinaufgestiegen, gleich am zweiten Tag nach meiner Ankunft, um von dort oben auf meine neue Heimat, auf diese beiden ungleichen Schwestern, Krakau und Nowa Huta, blicken zu können
.
    Am Fuß des Hügels befindet sich die Festung aus rostroten Ziegeln, unheimlich wie ein Zuchthaus, eine Heilanstalt, eine Abdeckerei. Die Österreicher haben sie gebaut, einige Jahre, nachdem polnische Arbeiter den Gedenkhügel aufgeschüttet hatten. Nun haben dort ein Radiosender und ein Wachsfigurenkabinett ihren Sitz. Es war kalt und diesig, ein bewölkter Apriltag wie heute, Ostermontag. Emaustag. Es hatte sogar ein wenig genieselt, zunächst war ich ganz allein dort oben, und die Türme der Altstadt wirkten unendlich weit entfernt hinter diesem Schleier aus Nebeltröpfchen und Braunkohledunst. Und hinter der fernen Silhouette Krakaus, dreimal so hoch wie die Türme des Wawel, ragte der Schornstein des Hüttenwerks von Nowa Huta in den grauen Himmel, die wahre, wenngleich menschenleere Kathedrale in diesem Talkessel. Wie stolz ich auf dieses Wahrzeichen war, diesen Triumph des Neuen über das Alte
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    Näher, wenn auch ebenso unwirklich wie die Altstadt und das Hüttenwerk, liegen das Fußballstadion von Wisła Kraków und die Błonia-Wiese, diese merkwürdige baum- und strauchlose Steppe inmitten der Stadt, seit Jahrhunderten freigehalten, damit der erste polnische Papst der Kirchengeschichte dort dereinst seine Messe für Millionen feiern kann
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    An meinem Hügelbesuchstag war sie indessen menschenleer, aber das benachbarte Stadion füllte sich langsam, auch wenn ich die Schlachtgesänge der berüchtigten Krakauer Hooligans nicht hörte
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    Auf der südlichen Hügelseite liegt das Weichseltal, und wie ein weggeworfenes graugrünes Plastikband der Fluss darin. Träge schneidet er der Straße, die Rafał mich nun herunterrollen lässt, den Weg ab, das gelbschwarze Band einer Baustellenabsperrung. Nur der sandgelbe Gebäuderiegel des Prämonstratenserinnenklosters direkt am Weichselufer könnte noch verhindern, schnurstracks in ihre schwefelsaure Trägheit zu stürzen
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    Ich erinnere mich an vereinzelte Paare, die mich schließlich aus meiner Betrachtung der Stadtschwestern gerissen haben, jugendliche Paare ohne einen Blick für die Gegensätze, Augen nur für sich selbst, auf dem steilen Pfad zur Hügelkuppe verstreut, offenbar nur hier an diesem Nieselregentag, um mit sich allein zu sein und sich ungestört küssen zu können. Warum hier? Warum nicht zu Hause? Wollen sie dem Himmel näher sein? Oder einfach nur die Erde und die Asche der gefallenen Soldaten zwischen ihren aneinander stoßenden Zähnen spüren?
    Diese acht- und schutzlose Intimität erschien mir an diesem zweiten Tag nach meiner Ankunft wesentlich fremder als die vergilbte und zerknitterte Postkartenidylle mit ihren himmelstürmenden Schloten im Hintergrund
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    Und an die Krähen erinnere ich mich, nur halb so groß wie in Aden, ein ganzer Schwarm am steilen Hügelhang, wie Schwalben kleben sie daran und hacken in den Kunstrasen auf der Suche nach Gewürm, das es hier nicht gibt. Diese Krähen habe ich nicht vergessen, weil Krakau ja eher eine Stadt der Tauben ist; der Taubenplage und der Taubennarrheit. Angesichts der kotzerfressenen Renaissancefassaden wünschte man sich eigentlich einen Schwarm der Adener Monsterkrähen, die ein für allemal mit diesem Unschuld heuchelnden Ungeziefer
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