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Wald aus Glas: Roman (German Edition)

Wald aus Glas: Roman (German Edition)

Titel: Wald aus Glas: Roman (German Edition)
Autoren: Hansjörg Schertenleib
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den Melodien und Rhythmen, die sie an ihre Zeit mit Davor erinnerten: I’m Not Afraid von Eminem, When September Ends von Green Day und Stronger von Kelly Clarkson. Aber heute konnte sie auch diese Songs nicht hören; sie drückte die Stopptaste, zog die Kopfhörer aus und legte sich auf den Rücken.
    Die Hintertür zur Küche fiel ins Schloss, ihre Tante hatte ihre Zigarette wohl geraucht. Ayfer hatte vor einigen Tagen damit begonnen, in ihrem Kopf Listen der Menschen zu erstellen, die sie hasste oder liebte. Amca Burhan stand auf dem zweiten Platz ihrer Hassliste, direkt hinter ihrem Vater Celik, aber vor ihrer Mutter Aygül. Zuoberst auf ihrer anderen Liste stand natürlich Davor, gefolgt von ihrem älteren BruderNadir und ihren besten Freundinnen Ajla und Dasara. Teyze Yeter setzte sie einmal auf diese, einmal auf die andere Liste. An ihrem vierten Tag in Sile hatte ihr Yeter etwas Geld zugesteckt und ihr eingeschärft, es zu verstecken und ihrem Mann gegenüber auf keinen Fall zu erwähnen. Andererseits war Yeter an gewissen Tagen ungerecht, gemein und böse; als Ayfer sich weigerte, ihr hamsi pilavi zu essen, weil sie Sardellen nicht ausstehen konnte, hatte Yeter sie angeschrien und ihr mit der flachen Hand ins Gesicht geschlagen.
    Früher hatte Ayfer Familienferien in der Türkei geliebt; das Haus ihrer Großeltern Bekir und Nuray am Hafen von Amasra am Schwarzen Meer war ihr so vertraut, als sei sie dort geboren worden, nicht ihre Mutter. Und wenn man sie gefragt hatte, wo sie später einmal leben wolle, wenn sie es sich aussuchen könnte, hatte sie geantwortet, »auf den Malediven, aber weil das nicht passieren wird, in der Türkei, in Amasra am Schwarzen Meer«. Sie hatte davon geträumt, in der Türkei zu leben, jetzt sehnte sie sich nach der Schweiz.
    Ende Juni hatte sie die Sekundarschule abgeschlossen, aber keine Lehrstelle gefunden, und ihr Vater hatte beschlossen, sie zu seinem Bruder in die Türkei zu schicken, wo sie eine Anlehre als Köchin machen konnte. Dass Ayfer bei ihrem Onkel und ihrer Tante in einem Gefängnis gelandet war, hatte sie gleich begriffen, nachdem ihr Vater sie am 14. September bei ihnen abgeliefert hatte. Sie hatte kein Handy, durfte keinen der drei Hotelcomputer benutzen, es war ihr verboten, das Haus alleine zu verlassen. Den Lohn, der ihr für ihre Arbeit zustand, zahlte ihr Onkel auf ein Bankkonto ein, das er für sie eröffnet hatte, wie er behauptete. In den drei Wochen, die sie jetzt hier war, hatte Yeter sie erst ein Malnach Sile mitgenommen, wo es von Internetcafés wimmelte, aus denen sie endlich mit Davor hätte skypen oder ihm eine Mail schicken können.
    Wenn sie sich nicht bewegte und den Atem anhielt, konnte sie das Meer hören. Das Zischeln der auslaufenden Wellen besänftigte sie und trug sie zurück. Sie sah sich neben Davor auf einem der Steinblöcke in der Suhre sitzen, ein gutes Stück vom Freibad entfernt, in dessen Nähe die anderen am Ufer des Flüsschens saßen, rauchten, tranken, abhingen und Musik auf ihren iPods oder iPhones hörten. Davor und sie gingen jeweils ein Stück flussabwärts, dann zogen sie die Schuhe aus und wateten zu einem der großen Steine hinaus, die im Wasser versenkt worden waren, um ein Biotop zu schaffen. Dort konnten sie sich im Schutz der Nacht küssen und anfassen. Auf einem dieser Steinbrocken, flach und rechteckig wie ein Tisch, hatte Ayfer ihm erlaubt, sie zu lecken, bis sie ihm nach höchstens zwei Minuten einen Orgasmus vorspielte, weil es ihr peinlich war und sie sich vorstellte, schlecht zu riechen.
    In der Küche unter ihr fiel klirrend etwas auf den gefliesten Boden, und ein Mann fluchte. Wenn sie sich nicht täuschte, war es der älteste der drei Köche, die ihr Onkel beschäftigte. Der Mann mit dem Schnurrbart, der ihm wie eine schwarze Bürste über der Oberlippe klebte, stammte aus Izmir und stank selbst dann nach kolonya limon, wenn er Knoblauch andünstete. Er fasste ihr bei jeder Gelegenheit an den Hintern und hielt sich nur zurück, wenn ihr Onkel oder ihre Tante in der Nähe waren, die Gegenwart der anderen Köche schien ihn nur noch mehr anzustacheln. Gleich darauf hörte Ayfer Schritte ihres Onkels auf der Treppe; sie hatte rasch gelernt,zu erkennen, wer sich ihrem Zimmer näherte. Ihre Tante ging, als sei es ihr unangenehm, den Boden zu berühren, die Schritte des Koches aus Izmir waren laut, klangen aber gleichzeitig verschämt. Und ihr Onkel ging, wie er redete: selbstherrlich, laut, polternd.
    Ayfer
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