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Wald aus Glas: Roman (German Edition)

Wald aus Glas: Roman (German Edition)

Titel: Wald aus Glas: Roman (German Edition)
Autoren: Hansjörg Schertenleib
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Blasen warf, über die sie noch immer stolperte, obwohl sie sich jeden Tag vornahm, darauf zu achten. Eines der Zimmermädchen war nicht älter als sie und in einer ähnlichen Situation: Ihre Eltern hatten sie gegen ihren Willen aus Ankara nach Sile gebracht, weil ihr Bruder, der im Hotel Eysan in der Küche arbeitete, ihr die Stelle vermittelt hatte. Ayfer hatte sich zwei, drei Mal mit dem Mädchen unterhalten, dann hatte Yeter es ihr verboten.
    Sie hörte weder Stimmen noch Schritte, öffnete die Tür und ging schnell durch den Flur, ihr Badetuch aus der Schweiz über der Schulter. Sie war froh um alles, was sie mitgebrachthatte, auch wenn sie ihre Sachen nicht aus dem Koffer in die Regale des Schranks umgeräumt hatte, als erwarte sie, jeden Augenblick von hier verschwinden zu dürfen. Manchmal schlug sie den Deckel ihres Koffers zurück und steckte den Kopf hinein, um ihren Geruch mit geschlossenen Augen einzuatmen und sich zu Hause zu fühlen. Die zwei Fotos von Davor, die sie ohne das Wissen ihrer Eltern in die Türkei geschmuggelt hatte, schob sie jedes Mal, wenn sie sie betrachtet hatte, zurück in den Spalt zwischen Wand und Bodenleiste neben der Tür. Ihr Geld, das sie heimlich mitgenommen hatte, fünfzig Schweizer Franken und dreißig Euro, hatte sie, in ein Briefcouvert gesteckt, an die Rückwand des Schrankes geklebt.
    Das blau geflieste Bad roch muffig, dafür ging das Fenster auf ein Grundstück hinaus, auf dem mehrere Kakteen standen, die genauso aussahen wie die Kakteen, die sie als Kind gezeichnet hatte. Dahinter verlief eine staubige Straße, auf der, abgesehen vom Schulbus und von Lieferwagen, die das Hotel belieferten, kaum andere Autos fuhren. Der Himmel war hoch und ohne Wolke. Ayfer stieß das Fenster auf und konnte das nahe Meer riechen. Rasch zog sie sich aus und stieg in die Kabine, um kurz zu duschen. Die Tür des Badezimmers ließ sich nicht abschließen, darum duschte sie nur jeden zweiten oder dritten Tag. Die Morgenschicht im Hotelrestaurant gefiel ihr besser als die Mittags- oder Abendschicht. Mittags waren die Reiseleiter ungeduldig und unfreundlich, weil sie ihre Gäste so schnell wie möglich wieder in den Bussen haben wollten, abends saßen oft angetrunkene Gäste im Restaurant, die Ayfer schlecht behandelten oder betatschten. Die meisten Frühstücksgäste dagegen waren gutgelaunt, weil sie sich auf den Tag am Strand freuten und weil sie das Frühstücksbuffet mit Granatäpfeln, Feigen, Datteln und türkischem Gebäck daran erinnerte, dass sie in einem fremden Land in den Ferien waren. Außerdem entging Ayfer morgens ihrem Onkel, der nie vor neun Uhr im Restaurant auftauchte, weil er seinen Rausch ausschlafen musste.
    Ayfer trat aus der Dusche, trocknete sich ab, zog sich hastig an und putzte oberflächlich die Zähne. Irgendwo im unteren Stock klingelte ein Telefon, das erst abgehoben wurde, als sie auf den Flur trat. Sie ging zur Treppe hinüber, ohne über den aufgeworfenen Teppich zu stolpern, und lief in den unteren Stock hinunter. Sie wollte die gelbe Bluse, den schwarzen Jupe und die weiße Kellnerinnenschürze, die sie zur Arbeit tragen musste, nicht in ihrem Zimmer haben, darum bewahrte sie sie in einem der Metallspinde im Umkleideraum des Servicepersonals neben der Küche auf. Sie stürmte in den Raum, in dem die Jalousien Tag und Nacht geschlossen waren, freudig überrascht, weil das Mädchen aus Ankara, das sonst immer zu spät kam, in einem geblümten BH vor ihrem Spind stand und eben in den schwarzen Jupe stieg – da bemerkte sie ihre Tante Yeter. Sie stand vor der Tür zur Küche, in der Hand einen Besen, und starrte Ayfer aus zusammengekniffenen Augen an.
    »Hol die Eier«, sagte sie.
    »Wie viele?«, gab Ayfer kalt zurück.
    »Wie lange bist du jetzt hier?«
    Ayfer verkniff sich die Antwort »schon viel zu lange«, öffnete die Tür ihres Spindes, schlüpfte aus ihren Flip-Flops und in die offenen Schuhe mit dem niedrigen Keilabsatz aus Kork.
    »Jetzt sag schon«, sagte Yeter und wechselte den Besen in die andere Hand, »wie viele Eier holst du?«
    »Dreißig, Teyze «, antwortete Ayfer, »wie immer.«
    Sie drängte sich an Yeter vorbei, öffnete die Tür, ging durch die weiß geflieste Küche, in der es nach angebratenen Auberginen roch, obwohl kein Koch zu sehen war.
    Durchs Fenster sah sie, wie zwei Köche und der Hilfsarbeiter aus dem Iran am Steintrog im Innenhof Fische ausnahmen und putzten. Sie entriegelte die schwere Tür der Gefrierkammer, zog sie auf
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