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Stimmen

Stimmen

Titel: Stimmen
Autoren: Greg Bear
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Kapitel 1
     
    PAUL IST TOT. Ruf zu Hause an.
    Peter Russell – ein untersetzter Mann, dessen Haar bereits ergraute – blieb auf dem Bürgersteig des Ventura Boulevards stehen und blickte mit zusammengekniffenen Augen auf die Nachricht, die sein Handy-Display anzeigte; in der grellen Nachmittagssonne war sie kaum zu erkennen. Er schob die runde Brille auf die Stirn und hielt das Handy näher an die kleinen, belustigt blickenden Augen, um den Text besser entziffern zu können.
    Paul ist tot. Plötzlich fühlte er sich in seine Jugend zurückversetzt, als er eine Woche lang tatsächlich geglaubt hatte, Paul sei gestorben: Paul McCartney. Ich bin das Walross. Aber die Blockschrift auf dem Display hatte ihn getäuscht. In Wirklichkeit stand dort: Phil ist tot.
    Die Erkenntnis versetzte ihm einen Schock, denn er kannte nur einen Phil: Phil Richards. Er hatte zwar seit einem Monat nichts mehr von ihm gehört, aber konnte und wollte nicht glauben, dass die Nachricht den Menschen betraf, der seit fünfunddreißig Jahren sein bester Freund war – der Nettere, Schwächere und höchstwahrscheinlich Begabtere des P-Gespanns. Es konnte doch unmöglich Phil erwischt haben, Phil mit seinem fast zehn Meter langen Grand-Taiga-Wohnmobil, der unbeirrt an ihrem uralten Plan festhielt, irgendwann einmal die längste tollkühne Crosscountry-Aussteiger-Tour zu machen, die zwei alte Knacker je unternommen hatten.
    Doch nicht dieser Phil, bitte nicht.
    Er überlegte, ob er auf die Rückruftaste drücken sollte. Was, wenn es nur ein dummer Scherz war, irgendein Spam auf seinem Handy?
    Peter fuhr einen Oldtimer, ein Porsche-Coupe 356 C, das früher einmal knallrot gewesen war und inzwischen die Farbe verblichener Ziegelsteine angenommen hatte. Unbeholfen kramte er die Schlüssel heraus, um den Wagen aufzuschließen, und hätte dabei das Handy beinahe fallen gelassen. Das hier konnte er jetzt gar nicht brauchen, er hatte eine wichtige Verabredung. Wütend drückte er auf die Rückruftaste, worauf die Nummer mit Piepstönen angezeigt wurde. Er erkannte die Stimme an anderen Ende: Es war Carla Wyss, von der er schon seit Jahren nichts mehr gehört hatte. Sie klang aufgeregt und so, als hätte sie leichte Schuldgefühle.
    »Ich wollte nur kurz vorbeischauen, Peter, hab den Schlüssel aus dem Versteck in der Glocke genommen und bin ins Haus. Und da hab ich den Zettel gefunden. Mein Gott, ich hatte keineswegs vor, bei dir herumzuschnüffeln. Jemand namens Lydia hat ihn für dich dagelassen.« Lydia war Phils Ex-Frau. »Ich hielt es für das Beste, dich zu benachrichtigen.«
    Irgendwann hatte Peter Carla nach einer leidenschaftlichen Nacht in das Geheimnis der von dem italienischen Künstler und Designer Paolo Soleri entworfenen Bronzeglocke über der Eingangstür eingeweiht. Die Nachricht auf dem Zettel habe sie so niedergedrückt, sagte Carla, dass sie sich erst einmal ein Sandwich und ein Root-Bier aus seinem Kühlschrank habe holen müssen. Er sei ihr hoffentlich nicht böse.
    »Mi casa es su casa«, erwiderte Peter und schluckte seinen Ärger hinunter, weil anderes jetzt wichtiger war. Er stieß mit der Zunge in die kleine Lücke zwischen den Schneidezähnen. »Ich höre.«
    Carlas Stimme schwankte. »Also gut, auf dem Zettel steht: Lieber Peter, Phil ist gestorben. Es steht noch nicht fest, ob an einem Herzinfarkt oder an einem Gehirnschlag. Ich teile dir später Näheres mit. Ihre Unterschrift ist gut lesbar.« Carla holte Luft.
    »War er nicht auch Schriftsteller? Hab ich ihn nicht hier im Haus kennen gelernt?«
    »Tja.« Peter presste die Finger auf die Augen, um sich gegen die blendende Sonne zu schützen. Lydia wohnte seit einigen Jahren in Burbanks. Offenbar hatte sie jetzt Phils Freunde in Los Angeles abgeklappert. Carla schwatzte weiter auf Peter ein und erzählte ihm, Lydia habe die Nachricht mit Füller auf ein Blatt handgeschöpftes Papier geschrieben, es zusammengefaltet und mit Tesafilm und einer schwarzen Satinschleife verschlossen.
    Telefone hatte Lydia noch nie gemocht.
    Phil ist tot.
    Fünfunddreißig Jahre. Jugendjahre, in denen sie gemeinsame Träume gesponnen und Pläne geschmiedet hatten, während sie nachts im Garten auf den alten Rattansesseln mit den Schalensitzen gehockt hatten, die auf dem trockenen Gras zwischen den Wacholderbüschen standen. Jahre, in denen sie über Romane, Karrieren als Schriftsteller und große Ideen sinniert hatten. Phil hatte – nicht ohne eigennützige Hintergedanken – an Drehorten und
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