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Stimmen

Stimmen

Titel: Stimmen
Autoren: Greg Bear
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Springer, dargestellt als Privatdetektiv im Trenchcoat, setzte gemächlich über einen gespenstischen silbernen Bauern hinweg, um dort zu landen, wo er Peters Läufer bedrohte, der sich zu weit vorgewagt hatte. Das Spiel war recht weit fortgeschritten.
    Peter beantwortete den Zug damit, dass er seinen Läufer, den verrückten Wissenschaftler, drei Felder zurückversetzte. Dabei merkte er, dass ihn jemand beobachtete.
     
    •
     
    Phil hockte ihm gegenüber am Tisch. Bleich und ausgezehrt zwar, dennoch unverkennbar. Und er hatte immer noch dieses Leuchten an sich, das an einen Sonnenuntergang erinnerte und gegebenenfalls ein ganzes Zimmer erstrahlen lassen konnte.
    »Schön, dich zu sehen«, sagte Peter.
    Phil nickte ihm herzlich zu.
    »Wo bist du gewesen?«, fragte Peter.
    Hier in der Gegend. Hab gewartet. Du bist ein viel beschäftigter Mann.
    Phil streckte die Hand über dem Schachbrett aus. Peter konnte die Finger seines Freundes zwar nicht sehen, aber irgendwie schaffte es Phil, die silberne Dame in Form der Marsprinzessin Dejah Thoris so vorzurücken, dass sie ihre Gegner ernsthaft bedrohte. Wieder einmal musste Peter sich geschlagen geben: schachmatt. Aber er war froh, dass nicht er, sondern Phil gewonnen hatte. Phil, der ein schweres Leben und wenig Glück bei den Frauen gehabt hatte. Phil, der sein ganzes Leben lang viel zu kurz gekommen war.
    So gut es ohne Körper und ohne wirkliche Berührung ging, tauschten sie einen Händedruck aus. Dabei streckten sie die Andeutungen von Daumen zu ihrer alten Siegesgeste hoch – V für victory –, die aus den Tagen stammte, als für sie die Welt noch neu und voller Abenteuer gewesen war.
    Peters alter Freund hatte mit seinem Besuch mehr vor, als nur das Schachspiel zu Ende zu bringen. Wir sind fertig mit dem hier, wir müssen es aufgeben, Peter. Zeit für die tollkühne Cross-Country-Aussteiger-Tour der alten Knacker.
    Peter versuchte es zu leugnen. Ich möchte Lindsey helfen.
    Das hast du bereits getan. Mittlerweile fällt es einem schwer, die Erinnerungen festzuhalten. Glaub mir, es ist an der Zeit. Staub zu Staub. Lass all die wichtigen Dinge einfach los.
     
    •
     
    Peter blickt hinunter, sehr tief nach unten, und bemerkt das Leuchten des Sonnenuntergangs in seiner Körpermitte.
    Das also ist es?
    Phil nickt.
    Peter ist bereit, und das überrascht ihn selbst, weil er sich so lange widersetzt hat. Jetzt kann er sich wieder daran erinnern. Widersetzt schon wegen all der Kämpfe, die es ihn gekostet hat, zur Welt zu kommen und am Leben zu bleiben, sich einzupassen und zu einem sozialen Wesen zu entwickeln, die Sache mit der Kunst durchzuziehen, zu heiraten und Kinder großzuziehen. Und das alles zu beschützen…
    All die Frauen, die er geliebt hat, prächtige Körper und strahlende einladende Augen; all die Männer, mit denen er zusammengearbeitet und geredet hat, mit denen er sich die Hände geschüttelt und sich betrunken hat; die Filme und Tausende von Karikaturen; die undankbaren Bücher, für die er so geschuftet hat; seine Töchter, die beängstigend schnell und gleichzeitig zur Welt gekommen sind, schöne, runzlige rosa Babys, die ihn für immer verändert haben; die verwirrende und schmerzliche Liebe, die er für Helen, für Sascha und all die anderen empfunden hat. Er fragt sich, was sie jetzt wohl tun mögen, wen sie lieben, fühlt sich dabei einsam, von allem ausgeschlossen und verzweifelt daran. Aber das Wichtigste, das er jetzt deutlich, aber zu spät erkennt, ist die Liebe zu Helen, die ihm Kinder geschenkt und so sehr gelitten hat.
    Schon recht lange hat er sich dagegen gewehrt, all das aufzugeben, und er wehrt sich immer noch. Verpflichtungen und Beziehungen, Leidenschaften, Eifersucht und Neid – all das ist ja den Lebenden vorbehalten. Und nur den Lebenden.
    Es gibt noch einiges zu tun. So vieles ist noch nicht erledigt.
    Phil will davon nichts wissen. Du hast den Fluss überquert, Peter. Sinnlos, das Boot weiter mitzuschleppen. Es wird dich nur niederdrücken.
    So viele Bindungen ans Leben, so vieles, das es zu beschützen gilt. Jetzt ist der Kummer wieder da und mit ihm der letzte Stachel – die schmerzliche Erkenntnis, dass er nur noch sehr wenig Kraft in sich hat. Da ist so vieles, das er sich nicht mehr ins Gedächtnis rufen kann. Jetzt schon hat er sich halb aufgelöst, die Ränder verschwimmen bereits.
    Es ist vorbei. Er kann nicht heimkehren, es gibt kein Zurück.
    Schließlich beherzigt Peter Phils Rat und sucht nach dem, was ihn aus
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