Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Stimmen

Stimmen

Titel: Stimmen
Autoren: Greg Bear
Vom Netzwerk:
Schließlich konnte sich der körperliche Kontakt mit Gespenstern leicht als gefährlich erweisen.
    Aber es war richtig, das wusste er einfach.
    Es gab eine größere Welt und eine umfassendere Wirklichkeit.
    Und auch in dieser Sphäre hatte man Pflichten und war für bestimmte Dinge verantwortlich. Aber das wussten jetzt nur noch die wenigen, die sich eine Zeit ohne elektrisches Licht und ohne Kerzen, ohne irgendwelchen Schutz vor der Dunkelheit vorstellen konnten. Eine Zeit, in der man die Verstorbenen daran hatte erinnern müssen, dass es mit ihren Pflichten für immer vorbei war.
    Zwischen dem Couchtisch und dem Fenster wirbelte Staub auf.
    Während Lindsey im Schlaf zuckte und wimmerte, strich Peter ihr über das seidige Haar und betrachtete den Staub. Winzige Sonnenstäubchen tanzten bedächtig und mit Würde in dem Lichtkegel, den die Lampe auf der Veranda durch das breite Vorderfenster warf.
    Es dauerte eine ganze Stunde, aber selbst jetzt noch reichte der Staub im alten Haus aus.
    »Sieh mal«, sagte Peter.
    Lindsey schlug die Augen auf.
    Auf der anderen Seite des Couchtisches stand Daniella. Im dunklen Wohnzimmer war das goldene Leuchten ihrer Körpermitte deutlich zu erkennen, während alles andere verschwommen blieb.
    Lindsey setzte sich verschlafen und mit trübem Blick auf. »Sie ist ein so trauriger Anblick«, bemerkte sie.
    Daniella sah auf sie herab, ein Staubwirbel, der bewusst eine bestimmte Form angenommen hatte. Und mitten darin die verblassende Spur eines Sonnenuntergangs.
    Lindsey streckte die Hände als Erste aus.
    Als die Gestalt die ausgestreckten Finger sah oder spürte, verlagerte sie den Standort ganz leicht, als würde sie zu irgendetwas hingezogen.
    Peter nahm Lindseys andere Hand. Gemeinsam boten sie Daniella an, sie zu berühren. Einen Augenblick lang schien sie es nicht zu bemerken, doch gleich darauf verband sich der Staubwirbel, der ihre Hand darstellte, mit der von Lindsey – so ruckartig wie bei einem schlecht geschnittenen Film. Ein weiterer Ruck, und sie ergriff auch Peters Hand, so dass sie zu dritt einen Kreis bildeten.
    Diesmal tat es nicht weh und raubte ihnen auch nicht die Sinne. Doch Peter spürte, wie sich in den Zimmerecken und auf dem Flur die Schatten sammelten, die Aale und Aasfresser, die er bereits kannte, und einen schmerzlichen Augenblick lang wollte er nichts als aufhören. Er wusste, was dieses kleine Ritual bedeutete.
    Das Loslassen erfordert Opfer.
    Aber am Ende der Trauer und des Gedenkens wartet die Freiheit.
    Es war das letzte Mal, wirklich das letzte Mal, dass er mit seiner Tochter irgendwie kommunizieren konnte. Nicht nur in dieser Welt, sondern, wie er annahm, auch in jeder anderen.
    Daniella blickte in Peters Richtung. Er spürte, wie ihre Finger in seinen vibrierten, ein ganz leichtes Prickeln. Empfand noch einmal jeden Augenblick nach, den sie gemeinsam verbracht hatten, so als lauschte er alten Tonbändern oder betrachtete vergilbte Fotografien. Jetzt schon schien sie ihre Aufmerksamkeit auf andere Dinge zu richten, als stünde ihr eine schwierige Aufgabe bevor. Der Staub – Hautfetzen, Fasern der Kleidung, die sie getragen hatte – löste sich wie zarter Schnee von ihr. Da Daniella all das nicht mehr brauchte, zogen sie sich wieder ins Verborgene zurück.
    Peters Augen füllten sich mit Tränen.
    »Adieu«, sagte Lindsey, »wir haben dich lieb.«
    Der goldene Schein des Sonnenuntergangs verteilte sich und flammte noch einmal auf. Einen Moment lang war das Wohnzimmer zu ihrer Verblüffung so hell wie bei Tag. Peter konnte seine Handknochen erkennen, Spuren seines eigenen Skeletts und das in diffuses Röntgenlicht getauchte Fleisch ringsum.
    Erlösung.
    Endlich frei.
    Was ist das? So wunderschön, so voller Kraft. Wo zieht es hin?
    Jenseits des Lebens, nach dem Tod, erwartet uns ein weiteres Geheimnis. Hören die Rätsel denn niemals auf?
    Das Unerklärliche tut weh. Warum kann ich nicht mit ihr gehen?
    Wer ist sie jetzt?
    Was von Daniella geblieben war, wirkte zerfetzt, hohl, traurig und richtungslos. Erschöpft von der zusätzlichen Zeit, die sie auf Erden verblieben war, der Präsenz nach Ablauf der vorgesehenen Frist, versuchte sie sich mit einem letzten Aufzucken alter Instinkte verzweifelt an sie zu klammern. Denn dies war die letzte irdische Verbindung, die Daniella Carey Russell zu ihrem Vater, ihrer Schwester, all ihren Erinnerungen und zur materiellen Welt herstellen konnte.
    Schutzlos allem Kommenden preisgegeben.
    Die Schatten
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher