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Die Unermesslichkeit

Die Unermesslichkeit

Titel: Die Unermesslichkeit
Autoren: David Vann
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M eine Mutter war nicht wirklich. Sie war ein früher Traum, eine Hoffnung. Sie war ein Ort. Mit Schnee, wie hier, und kalt. Ein Holzhaus auf einem Hügel über einem Fluss. An einem verhangenen Tag, die alte weiße Farbe an den Gebäuden irgendwie heller durch das gefangene Licht, und ich kam gerade aus der Schule. Zehn Jahre alt, ich ging über schmutzige Schneeplacken im Hof, hinauf zur schmalen Veranda. Ich weiß nicht mehr, was für Gedanken ich damals hatte, weiß nicht mehr, wer ich war oder was ich fühlte. Das ist alles weg, ausradiert. Ich machte die Haustür auf, und meine Mutter hing von den Dachsparren. Entschuldigung, sagte ich, trat zurück und machte die Tür zu. Ich stand wieder auf der Veranda.
    Das hast du gesagt?, fragte Rhoda. Du hast gesagt, Entschuldigung?
    Ja.
    Oh, Mom.
    Das ist lange her, sagte Irene. Und selbst damals habe ich es nicht gesehen, also kann ich es heute auch nicht sehen. Ich weiß nicht, wie sie aussah, als sie dort hing. Ich kann mich an nichts mehr erinnern, nur an die Tatsache.
    Rhoda rutschte näher auf der Couch und legte den Arm um ihre Mutter, zog sie an sich. Beide blickten ins Feuer. Davor ein Metallschirm mit kleinen Sechsecken,und je länger Rhoda hinsah, desto mehr erschienen ihr die Sechsecke wie die Rückwand des Kamins, flammenvergoldet. Als könnte die rußschwarze Rückwand vom Feuer freigelegt oder verwandelt werden. Dann löste sie den Blick, und es war wieder nur ein Schirm. Ich hätte sie gern kennengelernt, sagte Rhoda.
    Ich auch, sagte Irene. Sie tätschelte Rhodas Knie. Ich muss ins Bett. Anstrengender Tag morgen.
    Das Haus wird mir fehlen.
    Es war ein schönes Zuhause. Aber dein Vater will mich verlassen, und der erste Schritt ist, dass wir auf diese Insel müssen. Damit es aussieht, als hätte er es noch mal versucht.
    Das stimmt nicht, Mom.
    Wir haben alle unsere Prinzipien, Rhoda. Und das wichtigste Prinzip deines Vaters ist, nie als der Böse dazustehen.
    Er liebt dich, Mom.
    Irene stand auf und umarmte ihre Tochter. Gute Nacht, Rhoda.
    Am Morgen schleppte Irene einen Baumstamm nach dem anderen vom Pickup zum Boot. Die passen niemals zusammen, sagte sie zu ihrem Mann Gary.
    Dann hobel ich sie ein bisschen zurecht, antwortete er schmallippig.
    Irene lachte.
    Danke, sagte Gary. Er trug bereits jenen grimmigen, besorgten Gesichtsausdruck, der all seine unmöglichen Projekte begleitete.
    Warum nicht eine Hütte aus Brettern bauen?, fragte Irene. Warum muss es eine Blockhütte sein?
    Doch Gary antwortete nicht.
    Wie du meinst, sagte sie. Aber das hier sind nicht mal Baumstämme. Da ist keiner dicker als fünfzehn Zentimeter. Das sieht nachher aus wie eine Baracke aus Stöcken.
    Sie waren auf dem oberen Campingplatz am Skilak Lake, das Wasser durch den Gletscherzufluss ein blasses Jadegrün. Flockig vom Schlick und so tief, dass es sich selbst im Spätsommer kaum erwärmte. Der Wind frisch und beständig, und die Berge, die am östlichen Ufer aufragten, hatten noch immer Schneeflecken. Über ihren Gipfeln, so hatte Irene häufig an klaren Tagen gesehen, die weißen Vulkanspitzen des Mount Redoubt und des Mount Iliamna auf der anderen Seite des Cook Inlet und im Vordergrund das breite Becken der Kenai Peninsula: schwammiges Grün und rotviolettes Moos, die verkrüppelten Bäume rings um die Feuchtgebiete und kleineren Seen und der eine Highway, der sich im Sonnenlicht silbrig wie ein Fluss hinschlängelte. Überwiegend Gemeindeland. Ihr Haus und das Haus ihres Sohnes Mark die einzigen Gebäude entlang des Ufers, und selbst die verschwanden zwischen den Bäumen, sodass der See noch immer urzeitlich wirken konnte, wild. Doch das Ufer war nicht genug. Sie zogen jetzt weiter, raus nach Caribou Island.
    Gary hatte seinen Pickup dicht an die Stelle herangefahren, an der das Boot mit offenem Bug lag, einer Rampe zum Laden von Frachtgut. Mit jedem Baumstammstieg er aufs Boot und ging bis hinten durch. Auf wackligen Beinen, weil das Heck im Wasser lag und schaukelte.
    Bauklötze, sagte Irene.
    Ich hab’s kapiert.
    Schön.
    Gary zog den nächsten kleinen Baumstamm. Irene nahm ihn am anderen Ende. Der Himmel verdunkelte sich ein wenig, und das hellgrüne Wasser wurde blaugrau. Irene blickte auf die Berge und sah, dass eine Flanke weiß war. Regen, sagte sie. In unsere Richtung.
    Wir laden weiter auf, sagte Gary. Zieh deine Jacke an, wenn du meinst.
    Gary im Flanellhemd, langärmelig über dem T-Shirt. Jeans und Stiefel. Seine Uniform. Er sah jünger aus, gut in Form
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