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Die Unermesslichkeit

Die Unermesslichkeit

Titel: Die Unermesslichkeit
Autoren: David Vann
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kippte den Motor hoch, kletterte über die Stämme und hüpfte etwa drei Meter vor dem Ufer ins seichte Wasser. Hilf mir mit der Klappe, sagte er. Da Wind und Regen nachließen, konnte sie ihn jedenfalls hören. Sie kletterte vorne herunter,sank bis zu den Knien ein, bis über die Stiefel, kaltes Wasser, die Steine darunter glitschig, und half ihm beim Entriegeln.
    Als sie den letzten Riegel löste, sprang ihnen unter dem Druck der Baumstämme die Klappe entgegen. Mann, sagte Gary, doch sie blieben unversehrt, fingen die Rampe auf und ließen sie herunter, während Wellen gegen ihre Schenkel schlugen und nun über das offene Bug ins Boot schwappten. Sie waren nicht weit genug an Land.
    Wir müssen schnell ausladen, sagte Gary, und ich muss den Motor anlassen wegen der Pumpe. Er kletterte über die Stämme zum Heck, kippte den Motor herunter, zog am Seil, schaltete die Bilgenpumpe an. Jetzt aber ran, sagte er und eilte zum Bug. Er griff einen Baumstamm und ging rückwärts. Nimm dir einfach einen und schleif ihn an Land.
    Also griff Irene einen Stamm und zog kräftig. Ihre Füße kalt im Wasser und der ganze Körper frostig, allmählich Magenschmerzen vom Frieren und dann Schuften.
    Das Boot sinkt schon, rief sie Gary zu. Die Bilgenpumpe hielt nicht mit. Das Boot lief vom Bug her zu schnell voll und ruckte in den Wellen hin und her.
    Scheiße, sagte Gary. Wir müssen die Klappe zumachen.
    Schnell befestigten sie die Klappe, dann sprang er an Bord, das hintere Ende saß tief, jede dritte oder vierte Welle spritzte herein, und er jagte den Motor hoch, um das Boot näher ans Ufer zu bringen. Irene hörte, wieder Bug über die Steine schrappte. Das Boot bewegte sich eine Handbreit und saß fest. Das Heck sank jedoch noch tiefer, wegen des Winkels, und noch mehr Wasser schwappte herein. Verdammt noch mal, schrie Gary, griff den Eimer, schöpfte hastig, um die Wellen zu überholen, bückte sich, schnellte hoch, bückte sich wieder, schöpfte literweise. Irene wusste nicht, was sie tun sollte außer zusehen. Kein zweiter Eimer, kein Platz dort hinten. Aber sie kletterte auf den Bug, damit vielleicht ihr Gewicht half, das Boot nach vorn zu kippen.
    Gary dunkel und durchnässt, schwer atmend und mit jedem vollen Eimer brüllend vor Anstrengung. Der Rauch vom Außenborder blies über ihn hinweg, die Bilgenpumpe spuckte, Wellen brachen übers Heck. Irene wusste, dass er jetzt Angst hatte, und sie wollte ihm helfen, aber sie sah auch, dass er es schaffte, dass sich das Heck zu heben begann und die Wellen jedes Mal weniger Wasser abluden. Du schaffst es, Gary, rief sie. Das Heck kommt hoch. Du schaffst es.
    Er war entkräftet, das wusste sie. Seine Schöpfbewegungen langsamer und manchmal so kurz, dass ein Teil des Wassers im Boot landete. Ich kann dich ablösen, rief sie, aber er schüttelte den Kopf, tauchte weiter den Eimer ein und schöpfte, bis die Wellen endlich gegen den Heckspiegel schlugen, ohne hereinzubrechen. Da hörte er auf, ließ den Eimer fallen und beugte sich über Bord, um in den See zu kotzen.
    Gary, sagte Irene, und sie wollte ihm beistehen, wollte aber das Gewicht aufs Heck nicht erhöhen. Die Bilgenpumpe schaffte das restliche Wasser, gemächlichallerdings. Gary, sagte sie wieder, alles in Ordnung, Schatz?
    Schon gut, sagte er schließlich, schon gut. Tut mir leid. Das war eine dumme Idee.
    Schon gut, sagte sie. Ist alles gut. Wir laden den Rest aus und fahren nach Hause.
    Gary hing eine Weile über dem Außenborder, schaltete dann Motor und Pumpe aus, kroch langsam nach vorne und kniete sich im Bug neben sie auf Baumstämme. Sie nahm ihn in den Arm, und so blieben sie einige Minuten, hielten einander fest, während der Wind auflebte und der Regen wieder zunahm. So hatten sie einander sehr lange nicht mehr gehalten.
    Ich liebe dich, sagte Gary.
    Ich liebe dich auch.
    Also, sagte Gary, was heißen sollte, weiter. Irene hatte gehofft, der Augenblick möge sich hinziehen. Sie verstand nicht, wie sich alles verändert hatte. Am Anfang hatte sie beim Schlafen mit einem Arm und einem Bein über ihm gelegen, jede Nacht. Sonntags waren sie im Bett geblieben. Sie waren gemeinsam auf die Jagd gegangen, im Gleichschritt, mit gezücktem Bogen, einem Ohr für Elche und einem Auge für jede Regung. Der Wald damals eine lebende Präsenz und sie ein Teil davon, niemals allein. Aber Gary ging nicht mehr auf die Bogenjagd. Sorge ums Geld, am Wochenende Arbeit, keine Sonntage mehr im Bett. Am Anfang, dachte Irene. So etwas
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