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Die Unermesslichkeit

Die Unermesslichkeit

Titel: Die Unermesslichkeit
Autoren: David Vann
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und sah auch nicht verschreckt aus.
    Nachdenklich betrachtete sie ihn. Seine Wirbelsäuleknickte ein, die Schulterblätter rutschten ihm in den Magen.
    Okay, sagte sie.
    Monique verbrachte den restlichen Nachmittag und den Abend damit, am Zusammenlauf zweier Flüsse zu sitzen, zu lesen und hin und wieder aufzublicken, um zu sehen, wie Carl keinen Rotlachs fing. Er stand in einer Reihe mit Hunderten weiterer Angeltouristen, Männern und Frauen aus aller Welt. Der Fluss nicht breit, knapp fünfzig Meter, diese Angler aber standen in Meterabständen eine halbe Meile entlang beider Ufer. Der beste Fischgrund war angeblich auf der anderen Seite dieser speziellen Biegung, wo das Wasser tiefer und schneller über eine steile Kiesbank floss.
    Carl jedoch stand diesseits in Watstiefeln im Seichten gut fünf Meter vom Ufer entfernt und schnickte eine Fliege über den Grund, wo Rotlachse friedlich auf der Stelle gegen den Strom anschwammen. Monique sah ihre Schatten im gesprenkelten Licht und stellte sich vor, wie sie ihre Mäuler öffneten und schlossen, wie sie Wasser schnappten und wachsam die Reihen gleichmäßig verteilter grüner Stiefelpaare beäugten sowie die großen roten Fliegen, die um sie herum flitzten.
    Die Angler waren alle so ernst. Für Monique war das Beste hier die Landschaft: die üppigen hohen Berge dicht am gegenüberliegenden Ufer, die kurzen, mit Wildblumen getüpfelten Täler, die sumpfigen Flächen voller Stinkkohl, Farn, Mücken und Elche. Doch nichteiner der Angler sah jemals vom Wasser auf, nicht einen einzigen Augenblick. Die Stimmung entlang des Ufers war wie die Stimmung in einem Casino.
    Monique las einen Kurzgeschichtenband von T. Coraghessan Boyle. Die Geschichten waren lustig, und oft lachte sie laut. In einer läuft Lassie einem Kojoten hinterher, verbotene Liebe. Die gefiel ihr besonders. Sie hatte Lassie immer gehasst.
    Monique sah zum Glück gerade rechtzeitig auf, als Carl seine Angelrute in den Fluss warf. Einige Angler merkten auf. Ihre Schnüre verharrten einen Augenblick am Boden, danach schnickten einige ihre Ruten hin und her, um sie wieder freizubekommen.
    Carl kam in seinen Watstiefeln durchs Wasser gespritzt, rutschte ein wenig über die glatten Steine und Fischeingeweide und was noch alles da unten war. Er ging direkt auf Monique zu, die ihr Buch zuklappte.
    Nicht gut?, fragte sie.
    Carl packte sie an den Schultern und küsste sie fest. Gott, jetzt fühle ich mich besser, sagte er.
    Monique lächelte und holte sich noch einen Kuss. Das gehörte zu den Dingen, die sie an Carl mochte. Mit der Zeit kam er sich selbst auf die Schliche. Und im Gegensatz zu den meisten Männern hielt er nicht an Schwachsinn fest, nur weil jemand zusah.
    Als Rhoda nach Hause kam, saß Jim da, einen Drink neben sich auf dem Couchtisch. Den Blick zu den Fenstern gewandt, trank er und sah aufs Meer. Sehr merkwürdig, da Jim praktisch nie trank und schon gar nichtallein. Rhoda registrierte nun Nebensächlichkeiten, wie man sie inmitten tragischer Ereignisse wahrnimmt: Der Kühlschrank sprang nur kurz an und beruhigte sich gleich wieder; Sonnenlicht wurde vom dunklen Holz des Couchtischs zurückgeworfen, erreichte aber nicht seinen Drink; das Haus wirkte unnatürlich warm, beinahe feucht, beengend. Sie stellte die Einkaufstüten ab und ging zu ihm.
    Was ist los?, fragte sie mit einem Ton in der Stimme, der für sie nach Angst klang. Dabei fasste sie ihn leicht an die Schulter.
    Hey, sagte er, ein wenig gerötet vielleicht, als er sich zu ihr umdrehte, aber nicht betrunken, mit klarer Artikulation. Wie war dein Tag?
    Was soll das hier? Warum sitzt du hier und trinkst?
    Bloß ein kleiner Sherry, sagte Jim, und er nahm das Glas und ließ die Eiswürfel kreisen. Genieße die Aussicht.
    Irgendwas ist doch. Ich dachte, es ist jemand gestorben oder so. Warum bist du plötzlich so anders?
    Darf ein Mann nicht mal was trinken? Herrgott, man sollte meinen, ich würde das Haus abfackeln oder die Wände mit Kreide beschmieren oder so was. Ich bin einundvierzig, Zahnarzt, in meinem eigenen Haus, und trinke nach der Arbeit ein Gläschen Harveys.
    Okay, okay.
    Entspann dich.
    Okay, sagte Rhoda, Entschuldigung, ja? Ich habe Huhn mitgebracht. Ich dachte, wir könnten Zitronenhuhn essen.
    Lecker. Dabei fällt mir übrigens ein. Ich habe vielleicht einen neuen Partner für die Praxis gefunden. Einen Zahnarzt aus Juneau, einen gewissen Jacobsen, und ich wollte ihn vielleicht morgen Abend zum Essen einladen, um Details zu
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