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Die Unermesslichkeit

Die Unermesslichkeit

Titel: Die Unermesslichkeit
Autoren: David Vann
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für Mitte fünfzig. Irene gefiel sein Anblick noch immer. Unrasiert, ungeduscht im Moment, doch echt.
    Dauert nicht mehr lang, sagte Gary.
    Sie würden die Hütte von Grund auf selber bauen. Ohne Fundament. Und ohne Pläne, ohne Erfahrung, ohne Genehmigung, bitte keine Ratschläge. Gary wollte es einfach machen, als wären sie beide die ersten Menschen in dieser Wildnis.
    Also luden sie weiter auf, und der Regen kam auf sie zu, ein weißer Schatten über dem Wasser. Eine Art Vorhang, die Böenlinie, aber erste Tropfen und Wind waren immer kurz vorher schon da, unsichtbar, dem, was sie sehen konnte, voraus, und immer war Irene überrascht. Dieser letzten Augenblicke beraubt. Und dann brausteder Wind, die Böenlinie traf auf, und die Tropfen fielen groß und schwer, beharrlich.
    Irene nahm ihr Ende des nächsten Baumstamms und ging, das Gesicht vom Wind abgewandt, aufs Boot zu. Regen jetzt von der Seite, mit Wucht. Sie trug keine Mütze, keine Handschuhe. Verklebtes Haar, tropfende Nase, sie spürte das erste Frösteln, als der Regen ihr Hemd bis zu den Armen durchnässte, eine Schulter, oberer Rücken, Nacken. Geduckt lief sie zurück, jetzt wurde die andere Seite nass, und sie zitterte.
    Gary ging vor, ebenfalls geduckt, sein Oberkörper vom Regen abgewandt, als wollte er sich den Beinen widersetzen und seine eigene Richtung einschlagen. Gary griff nach einem weiteren Stamm, zog ihn heraus und trat zurück, da ging der Regen heftiger nieder. Es stürmte, und die Luft war voller Wasser, weiß sogar aus der Nähe. Der See verschwunden, die Wellen fort, der Übergang zum Ufer nur noch zu schätzen. Irene griff den Stamm und folgte Gary in die Vergessenheit.
    Wind und Regen ballten sich zu einem Getöse, über dem Irene nichts anderes mehr hören konnte. Sie ging, taub, sie fand den Bug, legte ihren Stamm hin, drehte sich um und ging zurück, nicht geduckt. Es gab keine trockene Stelle mehr, nichts zu bewahren. Sie war vollkommen durchnässt.
    Gary ging an ihr vorbei, eine Art Vogelmann mit angewinkelten Armen wie Flügel, die sich gerade erst öffnen. Im Bemühen, das nasse Hemd von der Haut fernzuhalten? Oder als instinktive Kampfhaltung, Arme in Position? Als er an der Ladefläche ankam, strömte ihmWasser von der Nase. Die Augen hart und klein, konzentriert.
    Irene näherte sich. Sollen wir aufhören?, brüllte sie gegen das Getöse an.
    Wir müssen diese Ladung auf die Insel schaffen, brüllte er zurück, dann zog er den nächsten Stamm heraus, und Irene fügte sich, obwohl sie wusste, dass sie bestraft wurde. Gary bekam so was nie direkt hin. Er überließ es dem Regen, dem Wind, der angeblichen Dringlichkeit des Projekts. Es würde ein Tag der Bestrafung werden. Er würde sie auskosten, sie stundenlang dehnen, sie beide verbissen antreiben wie das Schicksal. Es bereitete ihm Vergnügen.
    Irene fügte sich, denn wenn es ausgestanden war, konnte sie ihn bestrafen. Sie würde schon zum Zuge kommen. Und genau das trieben sie jetzt seit Jahrzehnten miteinander, unermüdlich. Schön, dachte sie dann. Meinetwegen. Und das bedeutete: Wart’s ab.
    Eine weitere halbe Stunde Baumstämme verladen im Regen. Irene würde krank werden davon, sich erkälten. Sie hätten ihr Regenzeug anziehen sollen, das in der Fahrerkabine des Pickup lag, aber dazu waren sie beide zu stur gewesen. Wäre sie ihre Jacke holen gegangen, als Gary es vorschlug, hätte es die Arbeit unterbrochen, hätte sie aufgehalten, und das wäre registriert worden, missbilligt, mit einem kleinen Kopfschütteln, einem Seufzer vielleicht sogar, aber etwas später, sodass Gary vorgeben konnte, damit hätte es nichts zu tun. Gary war vor allen Dingen ein unduldsamer Mann: unduldsam mit seinem Leben insgesamt, mit sich und dem, waser gemacht hatte und was er geworden war, unduldsam mit seiner Frau und seinen Kindern und natürlich mit all den kleinen Dingen, allem, was nicht richtig gemacht wurde, jedem Wetter, das ihm nicht entgegenkam. Eine allgemeine, beständige Unduldsamkeit, in der sie seit über dreißig Jahren lebte, die sie atmete.
    Der letzte Baumstamm endlich aufgeladen, und Gary und Irene klappten die Bugrampe hoch. Sie war nicht schwer, nicht vertrauenerweckend. Schwarzes Gummi, wo sie auf die Randplatten traf, eine Abdichtung bildete. Eine andere Verbindung zur Insel würde es für sie nicht geben.
    Ich stell den Wagen ab, sagte Gary und stapfte über die Steine davon. Noch immer Regen, wenn auch nicht mehr so windgetrieben. Genügend Sicht, um die
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