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Die Unermesslichkeit

Die Unermesslichkeit

Titel: Die Unermesslichkeit
Autoren: David Vann
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er, aber es verblüffte ihn. Für seine Ohren klang dieser dumpfe Gruß wie ein herzliches, heiteres, wenn auch dezentes und nicht übermäßig aufdringliches Hallo.
    Die Frau, sie lehnte am Bus, nickte zurück, zog ihre alte Daunenjacke fester um sich, und Jim stakste die Holzstufen zum Verkaufsfenster hinauf, bemüht, sie nicht anzusehen. Sie stand jetzt kaum zwei Schritte entfernt, und er war ganz beklommen. Und verzweifelt begierig. Das Begehren griff ihm wie eine kalte Hand durch die Genitalien ins Kreuz.
    Hey, Jim, sagte Karen. Zimtschnecke?
    Exakt.
    Mark kam ans Fenster und streckte die Hand aus.
    Jim schüttelte sie. Wie geht’s?
    Ich will dir eine Freundin vorstellen, sagte Mark. Jim, das ist Monique. Monique, das ist Jim. Jim ist Zahnarzt, der schnellste Bohrer des Westens. Monique ist zu Besuch in unserem holden Staat, um die wilden Weiten kennenzulernen.
    Monique reichte ihm die Hand, und Jim beugte sich hinunter, um sie zu schütteln.
    Hi, sagte Jim. Hast du eine schöne Reise?
    Ja, sagte sie. Mark und Karen kümmern sich sehr um mich. Sie wartete, während er sie anstarrte. Sie schien, nach Jims Eindruck, nicht bloß Zeit zu haben, sondern diejenige zu sein, die dahintersteckte. Wie der Zauberer von Oz oder so, in seiner kleinen Kammer.
    Könntest du mir einen Rat geben, fragte Monique. Als Zahnarzt. Ich hab da einen Zahn, der sich manchmal kalt anfühlt und ein bisschen wehtut, wenn ich in der Kälte war. Heute zum Beispiel tut er weh. Sie ruckelte ein wenig an ihrem Kiefer, fühlte nach. Ist das Karies oder irgendwas anderes?
    Möglich, sagte Jim. Um sicherzugehen, müsste ich ihn mir ansehen. Jim sah auf seine Uhr. Fünf nach halb zwei. Wenn du willst, kann ich ihn mir jetzt schnell ansehen, bis zwei habe ich Zeit.
    Hm, sagte Monique. Dann zuckte sie die Schultern. Okay.
    Jim fuhr mit ihr in die Praxis. Noch war keiner vomMittag zurück. Er machte Licht und führte sie zu einem der hinteren Stühle. Ach, vielleicht hätte ich dir erst mal alles zeigen sollen.
    Schon gut, sagte Monique und setzte sich in den Stuhl. Hübsche Enten da oben. Jim hatte die Unterseite von Gummienten an seine Decke geklebt, orange Schwimmhäute, die in der Luft herumpaddelten, als befände sich die Praxis unter Wasser.
    Für die Kinder, sagte Jim.
    Für die Jäger.
    Tja, vielleicht, sagte Jim und versuchte zu glucksen, da er nicht wusste, ob sie ihn mit den Jägern in einen Topf warf.
    Jim schaltete die Lampe an, forderte Monique auf, den Mund weit zu öffnen, und untersuchte eine Weile Zähne und Zahnfleisch.
    Im Anfangsstadium, sagte er. Wir sollten ein paar Röntgenaufnahmen machen, und wenn nötig, können wir einen kleinen Eingriff vornehmen, in erster Linie vorbeugend.
    Ah, sagte sie, und er zog den Finger aus ihrem Mund, damit sie sprechen konnte.
    Das kostet doch bestimmt.
    Das geht auf mich, sagte Jim. Und er wartete, bis die anderen eintrafen, ließ röntgen und setzte dann gleich eine kleine Füllung ein, obwohl dadurch sein gesamter Nachmittagsplan über den Haufen geworfen wurde.
    Nicht weitersagen, bat er nach der Behandlung, als er den Stuhl hochfuhr. Sie nahm ihr Lätzchen ab. Erbeugte sich dicht über sie und lächelte ein wenig, als er das sagte, bemüht, so was wie Geheimnisse zwischen ihnen zu beschwören und zu spüren. Er hatte einmal einen Mann sagen hören: Das ist mal eine Brüterin, und so hässlich und gestört dieser Satz war und ihm zuwider, dämmerte ihm nun, dass er dennoch zutraf. Hier war die Frau, mit der er Kinder zeugen wollte. Er konnte sich nicht vorstellen, wie sie Windeln wechselte oder auch nur schwanger war, aber er konnte seine kräftigen, großen, schönen Kinder sehen, dereinst in einem Porträt, frei von Unsicherheit oder Hader. Sie brachte es fertig, die Möglichkeit einer anderen Frau auszulöschen, und verhieß außerdem Reichtum, obwohl sie sich wie ein Hippie kleidete und sich wohl nicht mal diese Füllung hätte leisten können, hätte er sie zur Kasse gebeten.
    Nein, sagte sie.
    Verständnislos sah er sie an. Er hatte keine Ahnung, was sie meinte.
    Ich sag’s nicht weiter, sagte sie.
    Klar, sagte er. Hey, darf ich dich irgendwann zum Essen einladen? Bei mir kann man den Sonnenuntergang über dem Cook Inlet sehen. Ich könnte uns Lachs oder Heilbutt machen oder was immer du magst, damit du auch auf den Alaska-Geschmack kommst, solange du hier bist. Das war erstaunlich flott rausgekommen, sogar mit einem netten kleinen Schlenker zum Schluss. Er hatte sich nicht verspannt
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