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PR 2673 – Das 106. Stockwerk

PR 2673 – Das 106. Stockwerk

Titel: PR 2673 – Das 106. Stockwerk
Autoren: Hubert Haensel
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Prolog
     
    Manchmal war die Welt ruhig, so wie in diesem Moment. In solchen Stunden genoss Flemming Burnett die Einsamkeit seines subplanetaren Arbeitsraums und versuchte, das außerhalb herrschende Chaos zu ignorieren.
    Momentan fiel es ihm allerdings schwer. Er lehnte nicht wie sonst im Sessel, sondern saß weit vorn, auf der Kante der Sitzfläche, stützte die Ellenbogen auf den polierten Schreibtisch und vergrub das Gesicht in den Händen. Unablässig kratzten seine Fingernägel am Haaransatz entlang.
    Da draußen sind Stimmen.
    Lärm.
    Eine heftige Explosion in den oberen Stockwerken des TLD-Towers!
    Burnett gab sich einen Ruck und sah auf. Sekundenlang lauschte er, während seine Fingerspitzen die Stirn hinunterglitten und zwischen den Augen verharrten. Beinahe schmerzhaft massierten sie die Nase.
    Es war weiterhin still. Hatte der Lärm nur in seinen Gedanken nachgeklungen? Nein. Nein.
    Nein.
    Der ohnehin sinnlose Angriff war beendet, gleichwohl konnte er jederzeit von Neuem aufflammen. Eine Atempause herrschte im Untergang.
    Sie werden keine Ruhe geben, dachte Flemming Burnett. Warum sollten sie?
    Sein Blick streifte die Datumsanzeige, es war der 1. Dezember 1469 NGZ. Noch ein Monat bis zum Jahreswechsel.
    Burnett setzte sich steif auf. Er fragte sich, ob es die Mühe wert war, überhaupt an das neue Jahr zu denken. Wahrscheinlich würde Terra bis dahin in Eiseskälte erstarrt sein.
    Der Tod braucht keine viereinhalb Wochen ... Oft kommt er atemraubend schnell.
    Flemming Burnett lauschte dem verwehenden Gedanken. Zweifellos bestimmte die schlimmste Interpretation über die nächsten Tage und Wochen.
    »Die Anomalie wird zunehmend instabil. Sie kollabiert. Oder sie bricht auseinander.«
    Wort für Wort stieß er halblaut hervor und ließ jedem eine kurze Pause folgen. Es gab für ihn keine schlimmere Vorstellung. Ein Zusammenbruch des Miniaturuniversums, in dem sich das Solsystem befand, würde Terra zermalmen und kaum mehr als Atome übrig lassen ... Ein Aufbrechen oder eine Explosion konnte den Planeten sonst wohin schleudern – nur würde das kein angenehmeres Schicksal sein.
    »Wir müssen miteinander reden, AGENT GREY.« Der Wunsch Burnetts kam eher zwangsläufig, weil er das Geschehene ohnehin mit niemandem besser diskutieren konnte. Zugleich wischte er mit dem Arm einige Stäubchen von der Tischplatte.
    Um nichts in der Welt hätte er seinen Schreibtisch gegen eine moderne Arbeitskonsole eingetauscht, die diese gewisse steril-universelle Ausstrahlung standardisierter Kommunikationszentralen verbreitete. Der Tisch aus dunklem Holz hingegen atmete geradezu.
    Burnett griff nach dem kristallenen Tintenfass und rückte es zurecht. Ebenso den antiken Kolbenfüller, der nicht exakt parallel zur Tischkante lag. Ein Original wäre für ihn unbezahlbar gewesen; es handelte sich bei dem Füllfederhalter um eine von Terra-Nostalgikern vertriebene Replik. Das galt ebenso für das Schreibpapier, dessen Wasserzeichen verriet, dass es aus Totholz hergestellt worden war. Sinnigerweise wurden Tinte, Papier und Füller irgendwo in der Milchstraße produziert und von den Nostalgikern nur importiert.
    Die Entführung des Sonnensystems hatte den Nachschub versiegen lassen. Flemming Burnett rückte den kleinen Papierstapel zurecht.
    Mitten in der Bewegung hielt er inne, denn ihm wurde plötzlich bewusst, dass AGENT GREY ihm die Antwort schuldig blieb.
    »Wir müssen miteinander reden ...« Hatte er das eben gesagt oder nicht? Womöglich hatte er den Satz nicht laut ausgesprochen, sondern nur daran gedacht, das war alles.
    Fordernd schaute er auf das große Wandholo. Der gläserne Regen in der Projektion wirkte abstrus und verlockend zugleich. Wenn Burnett sehr genau hinsah, so intensiv, dass ihm die Augen schmerzten, glaubte er das Rieseln und Tröpfeln Tausender transparenter Signets zu sehen. Doch das war immer nur für wenige Sekunden, denn der Glasregen wurde sehr schnell zum dichten Vorhang eines steten Wasserfalls, und dahinter ...
    Flemming Burnett lächelte mild. Seine Arbeit provozierte solche Überlegungen, der Umgang mit dem Unwahrscheinlichen, dem eigentlich Undenkbaren, das für ihn einen völlig anderen Stellenwert hatte als für neunundneunzig Komma neun Prozent der Menschheit.
    Hinter dem Glasregen saß AGENT GREY. Burnett stellte ihn sich als Mann mittleren Alters vor, grau gekleidet, aber nicht in billige synthetische Faser, sondern in Wollstoff. Die Hose bestach durch zwei molekular geprägte Bügelfalten
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