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PR 2673 – Das 106. Stockwerk

PR 2673 – Das 106. Stockwerk

Titel: PR 2673 – Das 106. Stockwerk
Autoren: Hubert Haensel
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an jedem Bein, und das offen getragene Sakko mit dem geschwungenen Stehkragen hatte etwas Zeitloses.
    Ebenso grau wie seine Kleidung waren AGENT GREYS Augen. Wahrscheinlich blickten sie ein wenig kalt. Dazu das grau melierte, modisch stufenförmig geschnittene Haar, das an den Schläfen silbern schimmerte.
    Ja, das war AGENT GREY. Dieses imposante Wesen wartete hinter der Holowand, in der von ihm meist nur der gläserne Regen zu sehen war, als gäbe es nichts Aufregenderes zu zeigen. Andererseits verbarg der Regen sein Schmunzeln über die Unwissenheit der materiellen Welt.
    AGENT GREY wusste keineswegs alles. Jedoch hinterfragte er die Dinge, ging sie auf eine Art und Weise an, die Menschen für verrückt hielten, mitunter für irrsinnig.
    Flemming Burnett lächelte nachsichtig.
    Verrückt! – Das ist verrückt und irr. Zeige mir jemand den Menschen, der so etwas längere Zeit aushält, ohne den Verstand zu verlieren.
    Genau das waren seine Worte gewesen, als er zum ersten Mal mit einem Kontra-Computer konfrontiert worden war. Burnett erinnerte sich gut. Jahrzehnte lag das zurück, die Begegnung hatte ihn zu dem gemacht, was er heute war: Als Koko-Interpreter beherrschte er den Umgang mit Kontra-Computern, jenen positronischen Querdenkern, deren Berechnungen grundsätzlich von konträren Annahmen und den unwahrscheinlichsten Voraussetzungen ausgingen.
    Heute ist ein guter Tag, weil sich das Schicksal der Erde entscheidet. Wir schaffen es, die Sternengaleonen zu vertreiben, die Sonne wird mühelos neu entzündet werden, und danach kehren wir in die Milchstraße zurück, an den angestammten Platz des Solsystems im Orion-Arm.
    Ja, das alles erschien ihm extrem unwahrscheinlich.
    Aber war es denn unwahrscheinlich genug?
    Flemming Burnett streckte die Arme aus und legte beide Hände auf die Tischplatte. AGENT GREYS Konterfei zeichnete sich vage in dem unruhigen Glasregen ab, doch Äußerlichkeiten interessierten Burnett in dem Moment nicht mehr, lediglich das mächtige biomechanische Gehirn des eleganten Mannes, ein Block wie aus reinem Kristall. Es war makellos und ohne den Hauch einer Trübung, und wegen dieser Reinheit glaubte Burnett an den grauen Herrn. Das ging so weit, dass er AGENT GREY jederzeit sein Leben anvertraut hätte.
    Und AGENT GREY, das wusste er, vertraute ihm.
    »Eines Tages wirst du mich verfluchen und alles daransetzen, mich zu vernichten, Flemming Burnett«, hatte AGENT GREY einst geäußert. Konnte es einen größeren Vertrauensbeweis der Biopositronik geben, als dass sie genau dies als die unwahrscheinlichste Variante aller absurden Möglichkeiten ansah?
    Burnett kniff die Augen zusammen. Selten hatte er sich so verwirrt und elend gefühlt wie nach dem Versuch der Landetruppen, in den Tower einzudringen. Nichts wünschte er sehnlicher herbei, als dass dies alles schnell aufhörte. Tief atmete er ein, dann lächelte er wieder und griff nach der winzigen Figur, die er mit dem Papier unbeabsichtigt zur Seite geschoben hatte.
    Sie war aus extrem hartem Holz und nicht einmal fünf Millimeter groß. Allzu leicht konnte sie durch eine unbedachte Bewegung verloren gehen.
    Sekundenlang hielt er sie zwischen Daumen und Zeigefinger, dann setzte er sie vorsichtig mitten auf dem Papierstapel ab. Um die Figur in all ihrer Feinheit betrachten zu können, bedurfte es eines optischen Vergrößerungsfelds. Ein Samurai, ein historischer terranischer Krieger in voller Rüstung und selbst in den winzigsten Details perfekt bemalt. Burnett drehte die Gestalt so, dass sie ihn anblicken konnte, danach hatte alles wieder die gewohnte Ordnung.
    Er rutschte auf der Sitzfläche des Sessels zurück.
    »Hast du Zeit für mich?«, fragte er.
    Der gläserne Regen wurde zum Sturzbach aus Daten, Ziffern und Zeichen in einer Fülle und Schnelligkeit, dass Burnett das Gefühl hatte, von der Flut mitgerissen zu werden.
    »Ich habe alle Zeit der Welt für dich, Flemming Burnett«, antwortete AGENT GREY mit seiner sonoren, beruhigenden Stimme.

1.
     
    Reginald Bull stand vor der Panoramascheibe seines Büros hoch oben in der Solaren Residenz. Er genoss den Eindruck direkter Sicht durch das makellose Glasverbundmaterial: Nichts außer dieser unsichtbaren Barriere trennte ihn von den wehenden Dunstschwaden dort draußen, durch die immer mehr kleine Schneeflocken tanzten.
    Für kurze Zeit fraß sich sein Blick im Südwesten fest, wo eigentlich Sol am Himmel ihr Licht verströmen sollte.
    Die Sonne war da, aber sie blieb unsichtbar –
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