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Doppelte Schuld

Titel: Doppelte Schuld
Autoren: Anne Chaplet
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Imbiß lehnten einsame Männer an Stehtischen, hätschelten ihr Vormittagsbier und ließen die Welt an sich vorüberziehen.
    Lux und sie ernteten die üblichen neugierigen Blicke, weil alle glaubten, einer Blinden würde das nicht auffallen. Mittlerweile verstand sie, warum sich viele Blinde gegen einen Hund sträubten. Mit dem Tier in seinem Führgeschirr und dem Bügel war die ansonsten so diskrete Behinderung unübersehbar, und man sah die anderen zwar nicht starren, aber man hörte sie.
    Es gab, gottlob, immer weniger Blinde. Mary sah sie vor sich, die gequälten Gesichter der Männer mit den schwarzgepunkteten gelben Binden, die nach dem Krieg zum Straßenbild gehörten. Geschoßsplitter, Hirnverletzungen, Nervenschäden. Heute kam so etwas selten vor und den meisten half der medizinische Fortschritt. Den anderen halfen Hunde wie Lux.
    Ein quirliger Bordercollie zerrte sein Herrchen hinter sich her, um Lux von Nase zu Nase zu begrüßen. Die Hündin zeigte sich interessierter, als erlaubt war, und sah vorsichtig zu Mary hoch, ob sie wohl das Zeichen gab, das da hieß: Halt dich zurück. Aber Mary ließ ihr Leine und bemerkte, wie intensiv der andere Mann sie musterte. Routiniert registrierte sie seine wesentlichen Merkmale: um die vierzig. Etwa 1 Meter 85, athletisch. Dunkelbraune, mittellange Haare, hellbraune Augen. Kräftige Hände, die Handrücken behaart. Jackett mit Fischgrätenmuster und Lederflecken an den Ellbogen. Jeans. T-Shirt. An den Füßen Adidas. »Komm, Tess«, sagte der Mann, fügte ein höfliches »Auf Wiedersehen« hinzu und sah verlegen weg, als ihm sein Fauxpas bewußt wurde. »Auf Wiedersehen«, antwortete Mary freundlich und drehte sich um zu Lux.
    Sie standen vor einem Fachwerkhaus mit cremefarbenen geschnitzten Säulen vor Tür und Ladenfenster, hinter dessen verstaubten Scheiben ein Ficus vor sich hin kümmerte. Welches Geschäft gab es hier früher? Einen Metzger? Einen Fischladen? Haushaltswaren, Stoffe? Sie erinnerte sich vage an eine hagere Person, ein Fräulein mit spitzem Mund und klammen Fingern, das ihr ein Kleid angepaßt hatte, damals, bei einem ihrer ersten Besuche in Blanckenburg.
    Die Stecknadeln. Das Fräulein hatte sie im Mund und nahm eine nach der anderen heraus, um den Saum festzustecken. Mary hörte die Stimme, die leise vor sich hin summte, fühlte die kühlen Hände, mit denen das Fräulein sie hin und her schob, roch Wolle und Staub und das Öl der Nähmaschine.
    Es sei der Fluch des Alterns zu vergessen, glaubten alle. Sie sah das anders. Das Alter straft mit Erinnerung – besonders an das, was weit zurückliegt. Wie viele Jahre waren vergangen, seit sie zum ersten Mal nach Blanckenburg gekommen war, zu der Familie von Tante Betty, der Lieblingscousine ihrer Mutter? Ein Menschenalter, wie man so sagt.
    Das Glockenspiel vom Uhrturm, »Üb’ immer treu und Redlichkeit«. Die Kutsche mit den beiden braunen Wallachen, mit der die Familie Hartenfels sonntags auszufahren pflegte. Sie mußte zehn gewesen sein, Gregor dreizehn und Folkert fünfzehn Jahre alt, in diesem verzauberten Jahr 1933, von dem sie nicht wußten, daß es der Anfang vom Ende sein würde. Sie sah einen Federball durch die Luft fliegen, hörte Gregor lachen, Tante Betty rufen, Folkert Klavier spielen. Hatte den Geruch der Bücher aus der Bibliothek über der Kapelle in der Nase, ihr Lieblingsbuch damals hieß »Don Quixote«. Der Park und der Teich und der Jordan, das Flüßchen, an dessen Ufer entlang man bis nach Cattenstedt laufen konnte, zum Rittergut, um die Fohlen zu streicheln. Und eines Tages, es war ein besonders heißer Tag im Juli gewesen …
    Ellas gerötetes Gesicht. Der Duft von schwarzen Johannisbeeren. Die Köchin hatte in der Schloßküche Marmelade eingekocht, ihr Gesicht leuchtete hinter Dampfschwaden wie ein chinesischer Lampion. An diesem Tag hatten sie das Versteck gefunden.
    Die Kirche. Sie waren vor der Hitze in das kühle Gotteshaus geflüchtet, in dem selbst Gregor nur flüsterte. Hinter einer Tür am Ende des Seitenschiffs ging es eine enge Treppe hinab, immer tiefer, bei Kerzenschein, den Stummel trug Folkert in der Hand, hinunter bis zu einem eisernen Tor. Dahinter lag die Krypta mit den Särgen und Sarkophagen aus Stein und Eisen.
    Das Grab. Ein schlichter Steintrog mit einem Deckel, durch den ein Riß ging. Darüber das in Stein gehauene Reliefbild eines Ritters und verwitterte Buchstaben, die man nur entziffern konnte, wenn man sie mit den Fingerspitzen
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