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Doppelte Schuld

Titel: Doppelte Schuld
Autoren: Anne Chaplet
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mehr unsichtbar, sondern nicht zu übersehen.
    Seufzend setzte sie sich aufs Bett und rief Lux herbei. Dann nahm sie ihr das lederne Leibchen ab, das gelbweiße Führgeschirr mit dem Bügel und dem Zeichen für »Blindenführhund« auf der Schulter. Es rührte sie immer wieder, daß der Hund seine Arbeitskleidung mit sichtbarem Stolz trug.
    »Ab heute sind wir in Zivil«, sagte sie zu Lux und kraulte ihr die seidenweichen Ohren. Dann schickte sie das Tier auf seine Decke.
    Im Bad wusch sie sich die Hände, tupfte sich Vol de Nuit von Guerlain hinter die Ohren, sog den vertrauten, lange vermißten Duft ein und musterte sich mit zusammengekniffenen Augen. Sie hatte sich nie vor dem Älterwerden gefürchtet – was bedeuteten schon Falten. Was sie zu fürchten begann, waren die kleinen Unsicherheiten, die sich zu häufen schienen. Sie stolperte zu oft, sie vergaß zu viel, sie wiederholte sich. Oder nahm sie das alles zu ernst?
    Es gibt Dinge, die verlernt man nie. Und es gibt Dinge, die lernt man auch mit größter Mühe nicht. Zum Beispiel, wirklich alles mitzunehmen, was man auf Reisen braucht. Die Nagelfeile. Das Deo. Genug Socken. Das Etui mit dem Nähzeug. Und die Fellbürste für den Hund. Mary Nowak versuchte, nachsichtig mit sich zu sein. Sie hatte Frau Willke erzählt, daß sie in die Stadt gehen wollte, um einzukaufen. Und genau das hatte sie vergessen. Vor lauter Nostalgie.
    Well done.
    Sie kehrte zurück in den großen, hellen Raum und öffnete die Tür zum Balkon. Auf der Anhöhe gegenüber lag das Schloß, cremeweiß auf dem Präsentierteller wie ein Baumkuchen vor dem Anschnitt. Mit den Armen auf die Brüstung gestützt starrte sie hinüber, bis ihr die Augen tränten.
    Was willst du hier? Was suchst du hier nach all den Jahren?
    Die Antwort hieß – Sirius.
    Sirius. Hundsstern. Canicula. Hellster Stern am Nachthimmel und Hauptstern im Bild des Canis Major. Doppelt so groß wie die Sonne, heller und heißer. Einer der nächsten Sterne, den man überall auf der bewohnten Erde sehen konnte.
    Sirius war das Schlüsselwort. Das Geheimwort, das sie band. Sirius begleitete sie seit unendlich langer Zeit, weit weg und immer nah. Wer sie gerufen hatte, mußte wissen, was das Wort für sie bedeutete.
    Und dafür kam nur einer in Frage.
    Mary ließ sich auf den Balkonstuhl sinken. Jedes Detail konnte man von hier aus sehen. Die alte Mauer, die zum Schloß hochführte. Die Baumriesen des Parks. Die großen Fenster der gräflichen Suite. Den Uhrturm. Für einen Moment bildete sie sich ein, jemanden dort oben stehen zu sehen unter der Glocke, die für die Grafen von Hartenfels zu Blanckenburg bis 1945 geläutet hatte. Und die jetzt wieder erklang, seit Gregor von Hartenfels nach Schloß Blanckenburg zurückgekehrt war.
    Sie konnte den Blick nicht von dem barocken Koloß wenden, obwohl sie spürte, wie der Anblick sie in Unruhe versetzte. Im Grunde wußte sie, was sie bewegte und wovor sie zurückschreckte. Sie hatte Angst vor der Begegnung mit dem Schloß, vor den Erinnerungen, die es auslöste.
    Sie hatte Angst vor Gregor.
    Heute früh auf der Wiese, wo früher die Schloßkirche gestanden hatte, war ihr alles noch ganz einfach erschienen. Sie würde hinübergehen zum Schloß und Gregor besuchen. Sie würden reden. Sie würden schweigen. Sie würden all die Jahre Revue passieren lassen, um sie dann zu vergessen.
    Sie dachte an sein Lachen und fragte sich, ob es dem Alter getrotzt hatte. Ob die Falten im Gesicht ihn verändert hatten. Und ob er erschrecken würde bei ihrem Anblick.
    Eine Begegnung würde das Bild zerstören, daß er womöglich all die Jahre über von ihr bewahrt hatte. Wollte sie es wirklich darauf ankommen lassen?
    Plötzlich fiel ihr der Mann in den Wanderhosen ein, der sie beobachtet zu haben schien. Vielleicht war es gar nicht Gregor, der nach ihr suchte. Vielleicht hatte sie jemand ganz anderer hierhergelockt. Vielleicht saß sie bereits in der Falle.
3
    Nichts ging Katalina heute leicht von der Hand. Die neurotische Katze der Tochter von Zahnarzt Dr. Wenz fauchte und buckelte beim Anblick einer Spritze so lange, bis sie entwischen konnte, sprang erst aufs Fensterbrett und dann, unerreichbar, auf den Schrank. Der Nymphensittich von Opa Weber – Verdacht auf Schnabelräude – hackte nach ihr, obwohl er sie kannte, weil sie ihn ungeschickt angefaßt hatte. Und dann rutschte sie auch noch aus und landete neben dem Behandlungstisch auf Bello, der sie mit einem überraschten Rülpser
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