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Doppelte Schuld

Titel: Doppelte Schuld
Autoren: Anne Chaplet
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nachzeichnete. Gawan Graf von Hartenfels. Sie hatten ihn zu ihrem Schutzheiligen erkoren. Graue, schwere Bodenplatten neben dem Grab. Eine war lose, man spürte, wie sie sich bewegte, wenn man drauftrat. Folkert hebelte sie mit dem Taschenmesser hoch. Darunter ein Ring und eine schwarz angelaufene Münze. Ein Versteck. Ihr Versteck. Sie beschlossen, geheime Botschaften unter der Platte zu verstecken, Fundstücke, kleine Kostbarkeiten. Und als der Krieg begann …
    Das Verlobungsbild. Postkartengroß, mit gezacktem Rand. Angefertigt im Fotoatelier Jaumann, Danzig, Langer Markt. Wie ernst sie ausgesehen hatte. Sechzehn war sie gewesen, als sie sich mit Gregor verlobte, 1939, gegen den Wunsch ihrer Mutter – »Mathi, du bist doch noch viel zu jung!« Aber sie wollte Gregor ihr Wort geben, bevor das geschah, was alle fürchteten. Der Beginn der Katastrophe.
    »Nach dem Krieg in Blanckenburg«, hatten sie einander feierlich versprochen. Folkert hatten sie in Plötzensee an einem Fleischerhaken gehenkt. Und Gregor …
    Sie riß sich von der Erinnerung los, bevor sie in ihr versank. Sie war nicht hier, um sich zu erinnern. Und der leere Raum hinter der Schaufensterscheibe verbarg nichts und gab auch nichts her.
    On we go.
    Im Weggehen sah sie ihr Spiegelbild in der Scheibe: eine schmale Gestalt mit weißen Haaren, daneben ein schwarzer Hund und dahinter eine andere Person, die ebenso intensiv wie sie in das leere Ladengeschäft zu starren schien und jetzt hastig den Blick abwandte. Der Mann war ihr bereits vor wenigen Minuten begegnet, er war vielleicht 30, 35 Jahre alt und trug eine Art Kniebundhose. Der Tourist, der vor der Auslage des Fremdenverkehrsbüros gestanden hatte. Mary packte den Bügel und die Leine fester. Sie hätte nicht nach Blanckenburg kommen dürfen.
    »Zum Hotel«, flüsterte sie Lux zu, die sie erwartungsvoll ansah und dann mit Energie lostrabte.
    Der Mann hatte sie zurück in die Gegenwart geholt. Warum war sie hier? Was zum Teufel hatte sie auf diese Schnapsidee gebracht? Ein Wort. Nur ein Wort. Und jetzt war sie in Blanckenburg und versank in Erinnerungen, statt …
    Etwas zu tun, dachte sie. Aber was?
     
    Das Hotel Viktoria Luise war das schönste der Stadt: ein Schlößchen aus rosa Backstein mit cremefarbenen Fensterstürzen, Türmen und Erkern und einem säulenumrahmten Balkon. Sie kannte die Jugendstilvilla noch als Erholungsheim für Postbeamte. Was später damit geschehen war, wußte sie nicht, wahrscheinlich hatte man einen Kinderhort darin untergebracht, das machte man in der DDR gern mit den Wahrzeichen bürgerlicher Dekadenz. Heute war das Haus liebevoll renoviert, eine Suite und vierzehn Zimmer, und jedes ist anders, hatte Frau Willke gesagt und versucht, sich nichts vom Stolz auf ihr Haus anmerken zu lassen. Es lag an der Teufelsmauer, gegenüber vom Schloß, fast auf gleicher Höhe. Man schaute auf die Stadt hinunter und sah die Abendsonne hinter dem Schloß untergehen.
    Heute saß nicht Frau Willke an der Rezeption, sondern ein Mann, von dem Mary zuerst nur die wenigen feinen Haare sah, die er noch auf dem Kopf hatte. Er hielt ein belegtes Brötchen in der Hand, kaute und schaute auf den Computerbildschirm. Mary hörte die Maus hektisch klicken. Das mußte ja ein spannendes Spiel sein.
    »Ich bin hier nur die Vertretung«, sagte er, ohne aufzublicken.
    Sie nahm an, daß er keine Antwort erwartete, und lief hinter Lux her, die Treppe hoch, in den ersten Stock. Sie hatte das mittlere Zimmer namens »Schloßblick« bezogen, das Zimmer mit dem Balkon, auf dem man im Abendlicht sitzen und die Aussicht genießen konnte.
    Sie schloß die Tür auf und nahm die Sonnenbrille ab. Die hohen Wände waren türkisfarben gestrichen, der Stuck an der Decke sorgfältig restauriert. Genau das richtige für ein paar unbeschwerte Tage. Unbeschwert? Nicht hier. Nicht für sie. In Blanckenburg wartete zuviel Geschichte und zuviel anderes, das sie unruhig machte, auch wenn sie nicht genau sagen konnte, was.
    Vielleicht war es ein Fehler gewesen, überhaupt hierherzukommen. Ganz sicher war es ein Fehler gewesen, mit Lux zu üben. Es gab gewiß nicht viele Vorzüge des Alterns, aber auf einen hätte sie heute nicht verzichten dürfen: Alter macht unsichtbar. Für jüngere Menschen sehen alle alten Menschen gleich aus: farblos, faltig, gebeugt, ohne Ausstrahlung und Schönheit. Niemand nahm ältere Frauen wahr oder gar ernst. Noch nicht einmal ältere Frauen selbst.
    Mit einem Blindenhund aber war man nicht
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