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Doppelte Schuld

Titel: Doppelte Schuld
Autoren: Anne Chaplet
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kommen in meine Praxis ohne Schoßtier auf dem Arm – da stellt sich natürlich die Frage …«
    »Natürlich.« Er zögerte. »Es geht um einen – Hund.« Bei diesem Wort verzog sich sein Gesicht, als ob er mit der Zunge nach einem Loch im Zahn suchte.
    »Und – was ist los mit dem Tier?«
    Frank Beyer rutschte auf dem Stuhl nach vorn und dann wieder nach hinten. »Es handelt sich um einen Blindenhund.«
    Ein Blindenhund ist kostbar. Teuer in der Ausbildung, unersetzlich für seinen Besitzer.
    »Wo ist das Tier?«
    »Das weiß ich nicht.« Wenn sein Lächeln nicht so unendlich hilflos gewesen wäre, hätte sie ihn rausgeschmissen. »Ich suche ja danach – nach einem Blindenhund.«
    »Da sind Sie hier falsch.« Für so etwas war der Blindenhund zuständig, nahm sie an. Oder die Krankenkasse.
    »Nein, nein.« Er griff in die Brusttasche seines Hemdes und hielt ihr eine Karte hin. Detektei Hermes. Darunter eine Mobiltelefonnummer. »Wenn jemand mit einem Blindenhund in Ihre Praxis kommt … würden Sie mich bitte anrufen? Oder dieser Person meine Karte geben?« Dann hatte er sich vorgebeugt, »Es geht um Leben oder Tod« geflüstert und die Augen aufgerissen dabei.
    »Natürlich«, hatte sie beruhigend gesagt. »Da machen Sie sich mal keine Sorgen.« Hatte ihn dann höflich hinausbegleitet, er war der letzte gewesen vor der Mittagspause. Ein Spinner. »Leben oder Tod.« Was für ein Unsinn. Aber jetzt lag er hier, und für ihn selbst hatte sich die Alternative erledigt. Und sie – sie hatte Angst.
    Es ist nicht dein erster Toter, also stell dich nicht so an, sagte sie sich streng.
    Natürlich nicht. Aber …
    An der Praxistür hatte er sich umgedreht und sie gefragt, woher sie stamme. »Aus Bosnien.« Als ob ihn das etwas anginge.
    »Natürlich!« Er strahlte sie an, als ob er beim Preisausschreiben gewonnen hätte. Und dann hatte er etwas gesagt, das so harmlos war, daß sie ihre Erschütterung noch jetzt nicht begriff.
    »Vielleicht sogar aus – Mostar?«
    Aus Glogovac, wollte sie sagen. Aber sie hatte kein Wort herausbekommen.
    Wie in Trance kämpfte Katalina sich durch das Brombeergestrüpp zurück. Der Mann mußte etwas in ihrem Gesicht gelesen haben, jedenfalls hatte er sich entschuldigt, bevor er ging.
    Mit fliegendem Atem stand sie endlich wieder auf dem Weg, die Arme blutig, an den Hosen Brombeerranken und Blätter. Zeus gab einen leisen Jammerlaut von sich, als ob er wüßte, daß es sich nicht gehört, wenn Männer tot im Gebüsch liegen. Katalina streichelte seinen Kopf und redete beruhigend auf ihn ein. Dann leinte sie ihn an auf den letzten paar Metern zum Kutscherhaus.
    Die weiße Frau mit dem schwarzen Hund. Anubis, der Schakal. Der Gott der Toten. Das war ein Zeichen gewesen, ganz gewiß. Ihre vernünftige Seite protestierte, aber ihre dunkle Seite wußte es besser. Es war ein Zeichen. Der Mann von der Detektei Hermes hatte jemanden mit einem Blindenhund gesucht, und nun war er tot. Und er war noch nicht lange tot gewesen, als sie ihn fand – höchstens seit einer Viertelstunde. Kurz nachdem ihr ein Blindenhund begegnet war. Ob die weiße Frau … konnte ein blinder Mensch einen normal und gesund wirkenden Mann umbringen? Plötzlich hielt sie alles für möglich.
    Und dann fiel ihr etwas ein, das sie in ihrer Panik vergessen hatte. Über dem Toten schwebte ein merkwürdiger Geruch, fast wie ein schweres Parfüm. Der Tote roch nach Frühlingsblumen.
    Genauer gesagt: Er roch nach Moder und Narzissen.
    Ihre Hand mit dem Schlüsselbund zitterte. Sie drückte die Stirn an das kühle Holz der Tür zum Kutscherhaus und versuchte, tief und ruhig zu atmen. Zeus wartete geduldig.
    Mostar, dachte sie. Verflucht sei diese Stadt.

2
    Es roch anders.
    Mary Nowak hob das Gesicht unter der Sonnenbrille in die Herbstsonne. Blanckenburg lag da, als ob das alles niemals passiert wäre. Nicht der Fliegerangriff der Amerikaner nur wenige Wochen vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs, nicht die deutsche Teilung und das, was sich DDR nannte, ein Gebilde, in dem die Städte ganz ohne die Nachhilfe von Bombergeschwadern zerfielen. Überholen ohne einzuholen, dachte sie und sah das noch immer allzu vertraute Gesicht vor sich, die Halbglatze, den Ziegenbart – der Staatsratsvorsitzende Walter Ulbricht, mochte er unruhig liegen. Ruinen schaffen ohne Waffen, das war die wahre Errungenschaft des Sozialismus gewesen.
    Mary packte Bügel und Hundeleine fester. Natürlich roch es anders.
    Mußte es ja, fünfzig Jahre später.
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