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Mit Haut und Haaren

Mit Haut und Haaren

Titel: Mit Haut und Haaren
Autoren: Arnon Grünberg
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[11]  1
    »Worauf wartest du noch?«, fragt Lea.
    Sie trägt einen schwarzen Wollmantel mit Pelzkragen, aus dem Secondhand-Laden.
Einen neuen könnte sie sich in dieser Preisklasse nicht leisten.
    Lea reist mit leichtem Gepäck. Ein Rucksack genügt für fünf Tage. Mit
einem Föhn bekommt man die meisten Knitterfalten aus der Kleidung wieder heraus.
    Auf ihrem Knie liegt eine Hand. Doch eine Hand auf dem Knie ist noch
keine Intimität.
    »Wovon sind Sie noch mal Kennerin?«, hatte ein Professor am Abend sie
beim Abschiedsumtrunk gefragt, während er die Hand wie nebenbei auf ihren Oberarm
legte. Ihr war es unangenehm gewesen. Sowohl seine Frage als auch die Berührung.
    Keine Stunde zuvor hatte sie im Badezimmer ihr Kleid über die Dusche
gehängt und es mit dem Föhn bearbeitet. Die Knitterfalten gingen schwerer raus als
gedacht. Doch morgen Vormittag fliegt sie nach Hause,
dann kann sie das Kleid dampfbügeln lassen.
    ›Kenner‹. Ein alberner Ausdruck. Eigentlich kann man ihn nur in der Verneinung
benutzen, wie zum Beispiel in: »Ich bin kein Kenner chinesischer Vasen.«
    Sie ist Spezialistin für Rudolf Höß, das könnte man sagen. »Höß«, hatte
sie darum erwidert und sich dann mit [12]  den Worten entschuldigt: »Ich muss kurz
nachsehen, ob ein paar Bekannte von mir noch da sind.«
    In einer Ecke, eingeklemmt zwischen einem Pfeiler und einem gestikulierenden
Herrn mit Bart, hatte sie Roland Oberstein entdeckt. Am liebsten wäre sie direkt
auf ihn zugegangen, um ihn anzuflehen: »Rette mich.«
    Pathetisch natürlich. Doch ist die Hoffnung,
gerettet zu werden, nicht immer pathetisch? Wie aber ohne die Hoffnung auskommen? Und wenn wir schon Rettung suchen: Sollten
wir uns dabei nicht lieber nur auf uns selbst verlassen? Sie weigert sich, dies
als Leitsatz zu akzeptieren.
    Der Professor war ihr gefolgt. »Höß«, hatte er gesagt, »der Kommandant
von Auschwitz. Spannendes Thema. Hatte er nicht ein Verhältnis mit einer Lagerinsassin?
Nach dem Krieg haben die Polen ihn aufgehängt, nicht wahr?« Daraufhin hatte der
Professor Lea an eine Wand manövriert und ihr einen Vortrag über die Nürnberger
Prozesse gehalten. Er habe dazu einen großen Artikel verfasst, und außerdem – hatte
er übergangslos hinzugefügt – leide er an einer Glutenallergie und backe sich darum
jeden Morgen zum Frühstück Pfannkuchen aus Buchweizenmehl.
    Leas Zimmer ist auf einer Nichtraucheretage, trotzdem stinkt es darin
nach Rauch. Unmittelbar nach der Ankunft hatte sie die
Rezeption angerufen und um ein zusätzliches Handtuch gebeten. Sie sucht Gesellschaft, schon lange. Hier in dieser Stadt, wo sie schon zweimal
gewesen ist, soll es endlich so weit sein. Wenn nicht jetzt, wann dann? So viele
Konferenzen besucht sie nun auch wieder nicht. Außerdem mag Lea große Handtücher.
Wenn sie schon kein Badetuch bekommen kann, möchte sie wenigstens zwei kleine.
    [13]  Die Rezeptionistin hatte Leas Deutsch nicht verstanden. Daraufhin
hatte Lea ihre Bitte auf Englisch wiederholt, aber auch damit hatte die Rezeptionistin
offenbar Schwierigkeiten. »Sie haben doch schon eins«,
hatte sie in gebrochenem Englisch geantwortet. »Es sind doch Handtücher auf Ihrem
Zimmer?« Sie hatte argwöhnisch geklungen. Der Gast als Handtuchdieb.
    Lea hat langes, kräftiges braunes Haar. Ab
und zu entfernt sie ein graues mit einer Nagelschere. Ansonsten wirkt sie eher zerbrechlich.
Man sagt ihr oft, sie habe einen traurigen Blick, obwohl
sie das selbst gar nicht findet. Andere wiederum meinen,
sie sei ein Genie. Vielleicht müssen Genies unglücklich dreinschauen.
    Trotzdem würde sie gern anders wirken. Wenigstens nicht so, dass Leute
sofort denken: Mein Gott, was ist die Frau schwermütig. Seit kurzem schluckt sie
Tabletten gegen die Schwermut. Es gibt Nachmittage, an denen sie vom Schreibtisch
aufsteht, um sich einen Kaffee zu kochen, dann in die
Küche geht und plötzlich denkt: Ich schaue nicht bloß unglücklich drein, ich bin
es.
    Sie würde gern frivoler, leichtsinniger wirken. Sie hofft, dass die Tabletten sie unbeschwerter machen, ihr ein gewinnenderes
Wesen verleihen.
    »Worauf wartest du noch?«, fragt sie nun zum zweiten Mal, nachdem sie
die Hand auf das Knie ihres Besitzers zurückgelegt hat. Eine Hand, die auf ihrem
Knie herumliegt wie schwitzender Käse auf einer Käseplatte, kann sie nicht brauchen.
    Sie sitzt in der Bar des NH Hotels Frankfurt
City, die gleichzeitig auch als Restaurant und Frühstücksraum dient [14]  und sie an
eine
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