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Doppelte Schuld

Titel: Doppelte Schuld
Autoren: Anne Chaplet
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öffnete und weich wurde. Es gab nichts zu entschuldigen und nichts zu verzeihen. Die Chancen und die Versäumnisse sieht man erst am Ende des Lebens, und das, was einst tiefer Schmerz war, kann sich im Rückblick als Glücksfall erweisen.
    Und umgekehrt. Auch das Glück ist oft nur Gold, das Rost ansetzt.
    Sie führte die geöffneten Hände vor ihrem Körper langsam nach oben. Sie hatte immer geglaubt, daß die Liebe ewig währte, daß sie überlebte, was auch immer geschah. Daß nichts ihr die Kraft, die Beständigkeit nehmen kann. Aber sie hatte verloren.
    Wieder formte sie die Hände zum Tigermaul und bewegte sie kreisförmig nach unten und dann wieder nach oben. Erde.
    Sie war gekommen, um zu bleiben, wenn auch auf andere Weise, als sie es sich erträumt hatte. Der Kreis hatte sich geschlossen.
    Warum bist du zurückgekehrt? Moritz hatte nicht geflüstert. Er hatte ihr die Worte fast entgegengespuckt. Sie hatte nicht geantwortet. Was hätte sie auch sagen sollen?
    Weil du mich gerufen hast, Moritz? Aber vielleicht hast du jemand anderen erwartet. Nicht mich, sondern ein Phantom. Du hast so lange angestrengt auf die Stimme des Blutes gelauert, bis du nicht mehr hast hören können, was ich dir zu sagen hatte.
    Und Katalina …
    ›Im tiefsten Rot steht die Herbstfärbung. Tränen rinnen unwillkürlich.‹
    Marys Gesicht war naß, so naß wie ihr weißes Hemd. Katalina hatte sich von ihren eigenen Dämonen ins Verhängnis jagen lassen. Nicht von einer alten Frau, die ihre Kräfte überschätzt hat.
    Mary nahm die Adler-Stellung ein und legte die Hände auf den Rücken. Dann streckte sie sich, stellte sich langsam auf die Zehenspitzen und sank mit dem Ausatmen wieder in die Ausgangsstellung zurück. ›Siebenmal den Rücken strecken und hundert Krankheiten vertreiben.‹ Sterben, dachte sie, sollte man in möglichst gesundem Zustand.
    Nach dem siebten Mal blieb sie stehen und wischte sich mit dem Ärmel der Tunika das Gesicht trocken. Dann griff sie in die Hosentasche. Das kleine Metallstück glitzerte im Morgenlicht, es blinzelte ihr zu. Henry Nowak, dachte sie. Paul Grunau. Benjamin Dimitroff. Martin Axt.
    Und Marie Mathilde von Bergen.
    Sie hob den Arm, holte aus und schleuderte den Schlüssel ins Wasser. Der See verschluckte ihn mit einem zufriedenen Schmatzen und schickte zwei, drei Tropfen in die Höhe. Kreise breiteten sich aus und verebbten. Der See lag regungslos da und wartete.
    Die Frösche lauschten und schienen Atem zu holen. Dann setzten sie wieder ein. Mary Nowak nahm das Messer, das sie in Frau Willkes Küche hatte mitgehen lassen, und zog sich die Klinge über das Handgelenk. Erst beim dritten Mal quoll Blut. Das Messer war stumpf, und sie war nicht energisch genug. Aber das macht nichts, dachte sie. Es geht auch ohne.
    Sie hob die Arme und grüßte die aufgehende Sonne. Das Blut tropfte leuchtend auf ihr weißes Hemd. Im rosigen Schein der Sonne ging sie vorwärts, hinein in die spiegelglatte Fläche des Sees, bis sie den Boden unter den Füßen verlor. Sie schickte einen letzten Blick zum Himmel und ließ sich gehen.
    Wieder waren die Frösche still. Dann deckten ihre Rufe alles zu.
    Nur etwas hörte sie noch. Jemand rief ihren Namen.
    Stella.

 
    Dank
     
    Mein Dank geht first and foremost an Reinhard Jahn.
    Und an: Andrea Heres, Tanja Gräfling, Klaus Kobberger, Karl Pawek, Günter Rosenberger, Hartmut Wegner, Rudolf Westenberger.
     
     
     
     
     
    Textnachweis und empfohlene Literatur
     
    Alle im Buch auftretende Personen sind meine Erfindung. Nicht, natürlich, die Geschichte. Wichtige Informationen verdanke ich:
    Jan Rydel, Die polnische Besetzung im Emsland 1945–1948 , Osnabrück 2003
    Ulli Kulke, »Der Zauberberg von Bosnien«, in: Die Welt , 3. Juni 2006
    Andreas Förser, Serie in der Berliner Zeitung, Oktober 1994
    Anonyma, Eine Frau in Berlin , Frankfurt am Main 2003
    Carola Stern, Doppelleben , Köln 2001
     
    Das Motto, die Beschreibung der einzelnen Taiji-Übungen und einige der Haikus sind entnommen aus:
    Klaus und Barbara Moegling, Tai Chi Chuan für Einsteiger , München 2000
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