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Doppelte Schuld

Titel: Doppelte Schuld
Autoren: Anne Chaplet
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erschossen. Sie haben dich und deine Eltern vertrieben. Sie haben meine Familie verjagt. Was brauchst du noch für Gründe?«
    Was hätte sie antworten sollen? Ich empfinde keinen Haß? Alles, was geschah, hatte seine Logik? Und ich liebe meinen Sohn, wer auch immer der Vater ist?
    Sie war 1951 gegangen, weil … weil Henry es so wollte?
    Nein, dachte Mary. Vielleicht, weil etwas wiedergutzumachen war. Womöglich auch aus gar keinem besonderen Grund. Und wenigstens eines hatten ihr die verlorenen Jahre hinter dem Eisernen Vorhang geschenkt: die Zeit danach, mit Henry hinter Rhododendronhecken und Rosenbüschen im Mulberry Cottage in St Peter’s Close.
    Aber Martin war nichts geblieben außer seiner Rache.
     
    Als sie den Kirchplatz erreichte, blieb die Zeit stehen und begann sich zu drehen wie in einem Kaleidoskop, in dem die bunten Fetzen der Wirklichkeit über- und gegeneinanderpurzeln, bis sie immer kleiner werden und verschwinden.
    Die Kirche. Marie war auf dem Weg aus der Stadt gewesen, im Sommer 1945. Sie hatte sich umgedreht, wollte Abschied nehmen, sah, wie sich in der bebenden Luft die Säulen und Pilaster, die Giebel und Pfeiler erhoben und zu schweben schienen, bevor sie in einer Staubwolke ineinanderstürzten. Die neuen Machthaber hatten die Kirche über der Krypta gesprengt.
    Der Schloßpark. Umgestürzte Bäume, grasende Pferde, Feuerstellen. Die Engländer waren gegangen, die Russen gekommen.
    Der Schloßhof. Soldaten auf Krücken, mit verbundenen Köpfen, Ella in der Schloßküche, beim Suppekochen. Unten in der Stadt roch es nach verbrannten Häusern und verkohlten Menschen.
    Wie in einem Strudel riß die Erinnerung sie immer weiter zurück.
    Jechow. Das Gutshaus. Der Treck. Die eisige Januarnacht. Vermummte Menschen, kleine Kinderleichen am Wegesrand im Schnee, Falla mit Eis im Barthaar. Im Oderbruch, Monate später im April, die Rote Armee kam und rollte über sie hinweg. Die Rote Armee blieb.
    Mary riß die Augen auf. Sie stand im Schloßhof, wußte nicht, warum sie hier war und wohin sie wollte.
    »Du kannst nicht zu ihm. Nicht in seinem Zustand«, sagte eine Stimme.
    Sie fuhr herum.
    Moritz behielt die Hände in den Hosentaschen.
    Fedor. Die Rotarmisten im Stall. Der Mann mit der Narbe, der ihr ins Gesicht spuckte, als er mit ihr fertig war. Der mit den fehlenden Schneidezähnen. Der dritte, der nicht ganz so grob war wie die anderen. Und dann derjenige, den sie vergessen wollte. Der mit den schrägstehenden Augen.
    »Laß Gregor in Ruhe. Du kannst nichts für ihn tun. Du und dein Geld.«
    Ihr Sohn verachtete sie.
10
    Moritz’ Augen brannten, als ob er zu lange in ein loderndes Kaminfeuer gestarrt hätte. Irgendwann ließ Katalina sich endlich wieder in den Arm nehmen. Irgendwann schien sie ihm geglaubt zu haben, daß er den Bericht über den Tod ihres Vaters nicht gelesen hatte, den der Mann von der Detektei Hermes verfaßt hatte. Irgendwann sagte sie: »Wir müssen nach Gregor sehen.«
    Der Alte lag auf der Récamiere in seinem Wohnzimmer, oben, im ersten Stock des Turmflügels des Schlosses. Er war blaß, und er atmete zu schnell und zu flach, aber es schien ihm halbwegs gutzugehen.
    »Wo ist Mathilde?« Das war die erste Frage. Die zweite: »Was ist passiert?«
    Moritz versuchte, es ihm schonend beizubringen. Dennoch schüttelte der Alte wieder und wieder den Kopf und murmelte: »Schrecklich.«
    »Es ist vorbei«, sagte Moritz schließlich. Er meinte das beruhigend.
    Der Alte nickte mit dem Kopf. »Und was ist nun mit dem Schlüssel?« fragte er.
    Moritz starrte ihn an. »Hast du nichts anderes im Kopf als das verdammte Geld?«
    »Na hör mal, soll Martin Axt es vielleicht mit ins Grab nehmen?«
    Moritz wollte schon antworten, irgend etwas über die verdächtige Übereinstimmung von Gregor und Mathilde, was ihre Skrupellosigkeit betraf – aber es bewegte sich etwas am Rande seines inneren Bildes von der Szene am See. Da war etwas. Oder bildete er sich das nur ein? Seine Mutter hatte sich über den gräßlich zugerichteten Toten gebeugt, es schien fast so, als habe sie ihm die Augen geschlossen, eine ziemlich unpassende Geste nach allem, was geschehen war. Es war aber auch möglich, daß sie ihm in die Tasche gegriffen hatte. Das würde passen. Sie hatte ja noch nicht einmal für das Leben Gregors ihre Millionen riskieren wollen.
    »Mathilde hat ihn wieder an sich genommen.«
    Der Alte richtete sich auf. »Wir könnten endlich die Kapelle sanieren. Und das Dach über dem Gartentrakt neu
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