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Doppelte Schuld

Titel: Doppelte Schuld
Autoren: Anne Chaplet
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Wiese im Schatten, rechts die Grabsteine, kein Stein vom Morgenlicht berührt. Und daneben …
    Jetzt ist es soweit, dachte sie. Du hast Visionen.
    Die langen weißen Haare, die eine weiche Brise packte und auffächerte. Das weiße Gewand, eine Tunika über einer Hose. Die feinen Nebelschwaden, die aus der feuchten Wiese wie Weihrauchschleier aufstiegen und die Gestalt umhüllten, die breitbeinig dastand, das eine Bein angewinkelt, das andere gestreckt. Der linke Arm war auf das Knie des angewinkelten Beins gestützt, der rechte streckte sich, mit der Handfläche voraus, der aufgehenden Sonne entgegen.
    Zeus hob das Hinterteil und bewegte die Rute, langsam, bedächtig. Katalina verstand seine Sprache, sie beide hatten schnell gelernt, seit sie ihn eines Abends als Hundebaby in einem Karton vor ihrer Haustür gefunden hatte. Er drückte sich so präzise aus wie kein anderer Hund.
    Ich bin interessiert und beunruhigt, signalisierte die Rute. Da ist etwas … es ist fremd … man sollte es untersuchen … Seine Schnauze hob sich, die Nasenspitze bewegte sich. Aber es könnte auch – gefährlich sein … Er senkte die Schnauze wieder.
    Dann sah auch sie es, das, was der weißen Gestalt gegenübersaß, aufrecht, aufmerksam und reglos.
    Der Schakal. Schwarz, mit spitzer Schnauze und spitzen Ohren. Anubis, Sohn des Osiris, Gott der Toten, der die Fürbitte für sie entgegennimmt. »Heilige Jungfrau von Medjogorje«, flüsterte Katalina und fügte vorsichtshalber noch Sveti Ante hinzu, den heiligen Antonius von Padua, einen Mann für alle Fälle. In ebendieser Sekunde berührten die Strahlen der Morgensonne den Scheitel des größten der Grabsteine und bekränzten Anubis.
    Die weiße Gestalt stand noch im Schatten. Wie eine Skulptur. Ein Götzenbild. Eine altägyptische Hohepriesterin. Wie etwas Uraltes, aufgestiegen aus der Krypta unter ihren Füßen. Und dann drehte sie sich, wandte Katalina langsam das Gesicht zu, ein Gesicht mit dunklen Tälern und scharfen Kanten unter den weißen Haaren, darin Spuren von Schönheit und Ebenmaß. Ein Gesicht, dessen Augen geschlossen zu sein schienen. Katalina hielt die Luft an.
    Im nächsten Moment war die Vision vorbei. Anubis verwandelte sich in einen schwarzen Schäferhund, der sich niedersinken ließ und den Kopf auf die Vorderpfoten legte. Er trug ein weißgelbes Ledergeschirr, das Katalina vertraut war. Ein Hund, der so etwas trug, war etwas Besonderes. Anubis, der Gott der Toten, begegnete dem Reich der Lebenden als Blindenhund. Und die Gestalt, die sich in einer fließenden Bewegung wieder von Katalina abgewandt hatte, konnte nicht sehen.
    Sie trat ein paar Schritte zurück. Selbst der sonst so neugierige Zeus schien die Magie der Szene zu spüren und folgte ihr bereitwillig, fort von der Wiese, die jetzt im frischen Sonnenlicht schimmerte. Katalina fröstelte. Was für ein starker Zauber. Die weiße Frau übte ihren Kult ausgerechnet über der Stelle aus, unter der die Krypta lag. Und der schwarze Hund hatte direkt vor dem größten und ältesten der Grabsteine gesessen.
    Natürlich ein Zufall, alles andere wäre Aberglauben.
    Natürlich, tönte ein spöttisches Echo in ihrem Inneren.
    Auf dem Rückweg ging sie am Schloß vorbei. Die Sonne stand inzwischen hoch genug, um hier und da das Blätterdach der alten Bäume zu durchdringen, das sie so eifersüchtig zusammenhielten. Zeus trabte ebenso entschlossen nach Hause, wie er vorhin nach dem allmorgendlichen Spaziergang verlangt hatte. Nur Katalina zögerte, sie kämpfte mit dem Gefühl, auf Watte zu gehen. Oder auf Scherben. Die weiße Gestalt beunruhigte sie. Sie kam ihr vor wie ein Bote mit schlechten Nachrichten.
    Das Zeichen an der Wand.
    Zeus hob das Bein am großen Wegstein vor dem Traiteurshaus, das war ein feststehendes Ritual. Das Traiteurshaus lag direkt an der Schloßmauer, vor dem Tor zum Hof; hier wohnte einst der Koch, der, wenn man nach Pracht und Größe des Hauses ging, etwas dargestellt haben mußte im gräflichen Haushalt. Katalina schaute hoch zu den Fenstern im ersten Stock und bildete sich ein, das weiße Licht des Computerbildschirms zu sehen. Sie klingelte nicht. Früher wäre Moritz längst heruntergekommen, um Zeus und sie beim Morgenspaziergang zu begleiten. Aber seit Wochen schon saß er von morgens bis abends vor dem Computer und forschte in den Weiten des Netzes nach seiner seit Jahrzehnten verschollenen Mutter. Als ob ein Mann in den besten Jahren nicht auch noch anderes im Kopf haben
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