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Fahrtenbuch - Roman Eines Autos

Fahrtenbuch - Roman Eines Autos

Titel: Fahrtenbuch - Roman Eines Autos
Autoren: Niklas Maak
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Prolog
Der Fahrzeugbrief
    Der Wagen stand bei einem Schrotthändler im Norden der Stadt, in einer Lache aus feuchter Erde und Öl. Durch einen Aufprall war die Motorhaube zerstört worden, sie hing aufgerissen an einem Scharnier wie der Schnabel eines seltsamen Urvogels; wo einmal die Vorderräder gewesen waren, schleiften die Kotflügel im Dreck. Die Fahrertür stand offen, innen roch es nach warmem Plastik und Leder und Benzin. Die Tachonadel war ausgeblichen, auf dem Holzfurnier neben dem Schalthebel hatten Getränkeflaschen dunkle Ränder hinterlassen, der Teppich im Fußraum war mit feinen Tierhaaren übersät: Offenbar hatte hier einmal ein Hund gelegen.
    Im Handschuhfach befanden sich eine alte Europakarte – Deutschland war noch geteilt, in Frankreich gab es keine Autobahnen –, ein hellblaues Serviceheft, ein kaum mehr lesbares Parkticket und ein Foto, das eine Frau am Heck des Mercedes zeigte. Die Ledersitze waren abgewetzt, im Polster des Beifahrersitzes klaffte ein Riss. Im Serviceheft hatte jemand handschriftlich Modell und Baujahr des Wagens notiert: Mercedes 350 SL, 1971.
    Der Händler saß vor seinem Container in der Sonne. Er trug ein feingeripptes Unterhemd. Seine Tätowierungen – der Name Kati, ein Herz und ein Totenkopf – mussten schon älter sein, oder der Mann hatte in letzter Zeit viel trainiert, jedenfalls waren Schriftzug und Herz seltsam in die Breite gezogen. Er stand auf, warf seine Zigarette in den Matsch und trat auf den Stummel, bis er versunken war. Dann wusch er sich die Hände, aber das brachte wenig; das Öl saß so tief in den Poren, dass es zum Bestandteil seiner Haut geworden war.
    Neben dem Container standen Kisten mit Außenspiegeln, alten Leichtmetallfelgen, Kopfstützen und Stoßstangen, die er von den Unfallwagen abmontiert hatte und als Ersatzteile nach Afrika, in die Ukraine und in den Libanon verkaufte. Er deutete auf einen Aktenordner, in dem ein paar Fahrzeugbriefe aus den frühen siebziger Jahren hingen. In den Briefen standen die Namen der Besitzer, ihre Adressen und das Zulassungsdatum. Ein deutscher Name, ein italienischer, Adressen in Hamburg, Starnberg, Leumnitz und Berlin.
     
    Der Fahrzeugbrief ist die kürzeste Form einer Erzählung, das Skelett einer Handlung, der Schlüssel zu den Geschichten der Fahrer. Am 3. November 1971 verlässt der Wagen die Fabrik in Stuttgart Untertürkheim, nach 327.000 Kilometern ist er ein Unfallwrack. Was geschah in dieser Zeit, auf dieser Strecke? Wer waren die Fahrer, was passierte auf diesen Sitzen, welche Geschichten findet man, wenn man den Namen im Fahrzeugbrief folgt, und welche Geschichten werden mit diesem Wrack verschwinden?
    Es gibt nicht viele Anhaltspunkte für eine Suche: den Brief, die Adressen, ein Serviceheft, in dem die Postleitzahlen, wenn man zurückblättert, irgendwann vierstellig und die benutzte Tinte blasser werden. Einige der Fahrer leben noch, einige sind gestorben oder verschwunden, und nur ein paar Nachbarn erinnern sich noch an sie. Manche wollen, dass ihre Geschichten erzählt werden. Andere verlangen, dass Namen, Wohnorte, Berufe geändert werden. Es sind Menschen, die sich nie kennenlernten, Ärzte und Studenten, Italiener, Türken und Amerikaner; sie fuhren nacheinander einen Mercedes, der Beulen und Kratzer bekam, Öl verlor, in Unfällen demoliert, durch Schneewehen geprügelt, tiefergelegt, zerkratzt, umlackiert, dabei immer billiger und schließlich wertlos wurde. Was die Fahrer verband, war die Hoffnung, dass der Mercedes ihr Leben ändern könnte.
     

1971
Amerika
    Kilometerstand 000.000
     
     
    »Wissen Sie, ich glaube nicht an das Schicksal. Ich bin Arzt. Ich glaube an die Medizin. Von meiner Exfrau höre ich nichts mehr, sie ist mit ihrem Mann nach Australien ausgewandert. Ihr gemeinsamer Sohn hat dort eine Firma. Vielleicht ändern Sie meinen Namen und ihren, wenn Sie das aufschreiben – obwohl ich nicht glaube«, sagt er, »dass sie das hier lesen wird, und wenn doch, macht es auch nichts. Schließlich bin ich der Idiot in dieser Geschichte und nicht sie.«
     
    Aber wie hatte es begonnen? Was war damals passiert? Wie kam es, dass er Phyllis kennenlernte und seine Frau verschwand und die Dinge den Lauf nahmen, den sie nahmen?
     
    Es gibt ein Foto von ihm aus dem Winter des Jahres 1972, das ihn vor seinem Haus zeigt.
     
    Es war, sagt er, kalt an diesem Tag; die Kälte war über Nacht gekommen, eine Kälte, die die Felder mit einem weißen Rauhreif überzog und das Wasser in
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