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Doppelte Schuld

Titel: Doppelte Schuld
Autoren: Anne Chaplet
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Damals war sie zuletzt in Blanckenburg gewesen, die Stadt hatte wie im Nebel dagelegen, ein schwerer Dunst aus Qualm und Ruß, der aus Schornsteinen und Auspuffrohren quoll und das Gemüt verdüsterte. Und beim Besuch davor … Ihre Nase erinnerte sich an einen noch schlimmeren Gestank. In jenem Sommer, im Sommer nach dem Krieg, als sie abgerissen und halbverhungert nach fast einem halben Jahr auf der Flucht aus Ostpreußen endlich in Blanckenburg angekommen und den gepflasterten Fußweg zum Schloß hinaufgestiegen war, vorbei an Soldaten auf dem Abmarsch …
    Damals hatte es nach ausgebrannten Häusern und verkohlten Leichen gerochen.
    Mary holte tief Luft und schüttelte die Erinnerung ab. Sie gingen am Kleinen Schloß vorbei in die Marktstraße. Lux verhielt sich mustergültig, setzte sich an der roten Fußgängerampel und hielt sie, als sie weitergehen wollte, zurück, bis es grün wurde. Der Hund hatte das richtige Gespür für seine Aufgabe, er verfügte über genau die Besessenheit, die ein guter Blindenführhund braucht. Es war der beste bislang, den sie erzogen hatte. Noch ein Vierteljahr, dann war die Ausbildung beendet, und er konnte seinem künftigen Besitzer übergeben werden.
    Mary Nowak blieb stehen, mitten auf dem Bürgersteig. Lux drehte fragend den Kopf. Der Gedanke, das Tier abgeben zu müssen, tat weh. So sentimental war sie doch sonst nicht, wenn es um einen Job ging, der immerhin 25000 Euro abwarf. Außerdem brauchte ein anderer Mensch Lux nötiger als sie. Sie beugte sich herunter und strich dem schwarzen Schäferhund über das glänzende Fell. Die Leute, die an ihnen vorbeigingen, schienen zu zögern, sie spürte ihre Blicke. Gleich würden sie stehenbleiben und helfen wollen. Mary richtete sich hastig wieder auf. Daß sie plötzlich so gefühlsduselig war, mußte an Blanckenburg und der Erinnerung liegen.
    Es war merkwürdig, aber die Stadt sah aus wie das Blanckenburg, von dem sie jahrelang geträumt hatte. Wie es hätte aussehen können, wenn alles gutgegangen wäre. Wenn der Krieg nicht gewesen wäre. Wenn das Wörtchen wenn nicht wäre. Sie blickte nach oben, dorthin, wo das Schloß in seiner alles beherrschenden Präsenz thronte.
    Anyway.
    Die Geschichte läßt sich nicht rückgängig machen, und nichts bleibt, wie es ist. Auch du nicht, dachte Mary Nowak, als sie am Schaufenster von Möbel-Unger vorbeiging, das von Staub und Fliegendreck blind war. Aber noch immer hingen die beiden bronzenen Tafeln rechts und links des Backsteinportals mit der schweren Holztür. Viel mehr war nicht übriggeblieben von der einst so großartigen »Möbelhalle« des Hoftapezierers Friedrich Unger, deren prächtige Jugendstilfassade zum Schönsten gehörte, was die Lange Straße damals zu bieten hatte. In dem 1875 gegründeten Traditionsgeschäft gab sich jahrelang die High-Society des Städtchens die Klinke in die Hand. Heute stand der Laden leer. Wie lange wohl schon?
    Sie straffte sich und warf den dicken weißen Zopf nach hinten. Die Figur ist in Ordnung, und das Gebiß hält auch noch eine Weile, dachte sie und verfluchte nicht zum ersten Mal die unumstößliche Tatsache, daß sie in einem Körper steckte, dessen Verfall unaufhaltsam war – auch die Töpfe mit den teuren Cremes vergoldeten nur die Falten. Ihr Körper hatte mehr als 80 Jahre hinter sich, von denen sie höchstens 75 zugab. Aber in ihrem Kopf war sie noch immer – nun … Mary lächelte ihrem schmeichelhaft unscharfen Spiegelbild in der staubigen Schaufensterscheibe zu und ging weiter. In den besten Jahren eben.
    Das Rathaus mit seinen gotischen Zinnen und Türmchen war beflaggt. Der Marktplatz war groß und schön und leer. Niemand saß auf den steinernen Bänken neben dem Brunnen. Warum sollte hier auch jemand flanieren, vor blinden Schaufenstern, in einer Stadt, in der es noch nicht einmal Gäste für ein Straßencafé zu geben schien, das sie plötzlich schmerzlich vermißte? Sie drehte sich um. Ein Mann stand vor dem Schaufenster des Fremdenverkehrsamts. Ob das schon die Hoffnung auf blühenden Tourismus rechtfertigte?
    »Geh!« Lux gehorchte sofort. »Rechts!« Der Hund führte sie ein Stück die Tränkestraße hinunter und bog ab in die Marktstraße. Mary blieb stehen. Hier also waren sie, die Blanckenburger, die nicht arbeiteten oder zu Hause vor dem Fernseher saßen. Frauen begutachteten die Sonderangebote, die ein Modegeschäft vor die Ladentür gehängt hatte. Kinder zogen ihre Eltern zum italienischen Eiscafé, und vor einem
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