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Cotton Reloaded - 03: Unsichtbare Schatten

Cotton Reloaded - 03: Unsichtbare Schatten

Titel: Cotton Reloaded - 03: Unsichtbare Schatten
Autoren: Jan Gardemann
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So glücklich wie an diesem Frühlingsmorgen hatte Tavy Lee sich schon lange nicht mehr gefühlt. Stolz stand die junge, flachsblonde Frau neben ihrem korpulenten Vater im überdachten Führerstand einer Barkasse und ließ den Blick über den Hudson River schweifen.
    Rechts des Flusslaufs erhob sich das verkarstete Hochhausgebirge Manhattans, und entlang des ferneren Ufers auf der linken Seite erstreckte sich der mit frischem Grün überzogene Waldstreifen, hinter dem sich das Häusermeer von Jersey City verbarg.
    Der Dieselmotor der Porto Alegro, wie Bob Lee seine Barkasse getauft hatte, hämmerte im stupiden Rhythmus und ließ den Metallboden unter Tavys Füßen erbeben. Das Boot hatte einen bis zur Oberkante mit Müll und Unrat gefüllten Leichter im Schlepp, den Tavys Vater bei einer Müllverbrennungsanlage in Westchester abliefern sollte. Der Dieselgeruch vermischte sich mit dem gammeligen Gestank, der von dem Leichter herüberwehte. Doch das störte Tavy nur wenig. Als sie noch klein gewesen war, hatte sie ihren Vater oft auf seinen Touren auf dem Hudson River begleitet. So kam es, dass das Geruchsgemisch eher nostalgische Gefühle bei ihr hervorrief als Ekel oder Widerwillen.
    Soeben fuhren sie unter der George Washington Bridge hindurch. Tavy bewunderte die beiden hohen, monumentalen Pylonen aus Stahl, von denen es am New Yorker Ufer und drüben auf der New-Jersey-Seite jeweils einen gab. Diese Giganten ruhten auf gewaltigen steinernen Fundamenten. Die breite, an mächtigen Tragekabeln hängende Brücke, die sich mit einer Länge von etwa dreitausendfünfhundert Fuß über den Fluss spannte, wirkte auf Tavy von unten betrachtet bedrohlich und überwältigend zugleich. Das Geflecht aus Stahlträgern, mit dem die Brücke unterfüttert war, um die später hinzugefügte zweite Fahrbahnebene zu tragen, sah ungemein filigran aus. Kein Wunder, denn die Konstruktion befand sich etwa sechshundert Fuß über dem Kahn, der soeben unter ihr hinwegtuckerte. Angesichts des kolossalen Bauwerks kam Tavy das Boot ihres Vaters klein wie eine Nussschale vor.
    »Ein toller Anblick, nicht wahr?«, rief Bob Lee über das Dröhnen des Motors hinweg. Er war ein kräftig gebauter Mann, der mit den Jahren etwas Speck angesetzt hatte. Sein von einem Dreitagebart überwuchertes Gesicht war wettergegerbt und übersät mit kleinen Falten.
    Tavy nickte bestätigend. »Aber ich finde es noch viel toller, dass wir endlich mal wieder ein bisschen Zeit zusammen verbringen können, Daddy«, sagte sie und blickte ihren Vater dabei zärtlich an.
    Lee lachte rau. »An mir liegt es nicht, dass wir uns nur noch so selten sehen.«
    Als der alte Flussschiffer das betrübte Gesicht seiner Tochter bemerkte, lächelte er begütigend. Während er mit der Rechten das Steuerruder hielt, tätschelte er Tavy mit der anderen Hand ein wenig unbeholfen die Schulter. »Aber das ist schon in Ordnung, Kleines«, sagte er in aufgeräumter Stimmung. »Dein Studium ist wichtiger, als deinem alten Dad auf seinem rostigen Kahn Gesellschaft zu leisten. Deine Mom wäre stolz auf dich. Sie wollte immer, dass du eine gute Ausbildung erhältst und in deinem Leben nicht so hart schuften musst, wie deine Eltern es tun müssen.«
    Die Erinnerung an ihre Mutter, die bei einem Unfall an Bord der Porto Alegro ums Leben gekommen war, schmerzte Tavy jedes Mal aufs Neue, obwohl dieses schreckliche Ereignis nun schon fünf Jahre zurücklag.
    In einem Anflug von Melancholie richtete Tavy ihren Blick geradeaus auf den blauen Flusslauf, auf dem sich silbrig glänzend die Morgensonne spiegelte, die sich erst wenige Handbreit über den Horizont erhoben hatte. Der vor ihnen liegende Schatten der George Washington Bridge verdunkelte das Wasser jedoch Unheil verkündend.
    Unwillkürlich drehte Tavy sich um und spähte zur Brücke empor, unter der die Porto Alegro soeben hindurchgefahren war.
    Als sie den menschlichen Körper sah, der in diesem Moment aus Richtung der Brücke direkt auf die Barkasse herabstürzte, stieß sie einen durchdringenden Schrei aus.
    »Was hast du, Kleines?«, rief ihr Vater besorgt.
    Im selben Moment schlug der Körper mit einem dumpfen Laut auf dem Müllberg im Leichter auf. Der Mann, der wie ein Geschoss aus einer Höhe von mehr als sechshundert Fuß heruntergefallen war, drang beim Aufprall tief in den weichen Unrat ein und verschwand.
    »Ein Selbstmörder!«, rief Tavy entsetzt. »Er ist von der Brücke gesprungen und im Leichter gelandet!«
    Bob Lee zerbiss
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